Denk mal...
Wie geht so eine Dorfgeschichte weiter? ... Na ohne die großen Überraschungen ... aber mit Umzügen, Alltagsleben, vielen kleinen Abenteuern ... und mit einem besten Freund...
Manchmal fühle ich mich wie ein Zuschauer in dieser Geschichte. Wie ein bewegliches Denkmal verknüpfe ich über viele Jahre sämtliche Aktivität mit ihm. Wir spielen drinnen, machen Gefechte mit Cowboy- Indianerfiguren. lassen die Matchbox wild durch den Flur rollen und zocken später alle möglichen Videospiele durch. Draußen spielen wir im Buddelkasten, jagen Schmetterlinge, liegen auf Ästen im Kirschbaum und futtern bis wir platzen. Mit den Rädern fahren wir angeln oder zum Fussball spielen - egal, ob in der Schule, im Park oder dem offiziellen Sportplatz. Und sowieso fahren wir jeden Morgen gemeinsam zur Schule. Als wenn es immer so weiter gehen würde begreife ich gar nicht die Veränderungen in seinem Leben - und auch in meinem. Ich merke nicht, wie wir älter werden bis er schließlich aus meinem Leben verschwindet. Das Verschwinden hat sich mit vielen kleinen Zeichen angekündigt.
Mit ebensolchen beginnt auch unsere Geschichte und schließlich Freundschaft. Am Anfang steht der Umzug meiner Eltern vom einen Dorfende zum anderen. Hurra, eine neue Wohnung und sogar ein neues Zimmer. Aber ich kenn doch hier niemanden - als wenn ich in meiner vorigen Bleibe viele gekannt und Freunde gehabt hätte. Ich finde die neue Umgebung einfach doof. Die Häuser wirken mit den Zäunen wie Festungen. Auch das Haus schräg gegenüber. Wer hätte gedacht, dass sich hinter dem hohen, blaugrauen Maschendraht-Zaun, dem tiefgrauen Hausputz und den stillen Gardinen in den Fenstern mein Schicksal der nächsten Jahre verbergen sollte.
Zunächst gings morgens mit dem Rad zum Kindergarten am anderen Dorfende. Kurz vor dem Ende der Kindergartenzeit durfte ich wechseln zu einem in meiner Nähe. Dort traf ich viele neue Kinder. Darunter befand sich auch ein leiser, blonder Bengel. Wir redeten nur ab und zu, spielten nur gelegentlich. Erstaunt registrierte ich eines morgens, dass er aus dem Haus schräg gegenüber von meinem Elternhaus rauskam. Er wohnt hier?
Einige Monate später folgte unsere Einschulung. Er war mit seinen Eltern da und ich mit meinen. Wir blieben bei unseren Familien, bei unserer Herde, als wenn wir uns nicht würden; als wüßten wir nicht, wer schräg gegenüber wohnt; als wenn wir nicht schon heimlich gewetteifert hätten, wer mehr Süssigkeiten in der Zuckertüte hat. Seine sah irgendwie schicker aus als meine, war voller als meine, so dass ich meine Tränchen verstecken musste - großer Junge weint ja nicht. Doch ab jetzt hatte er morgens das selbe Ziel wie ich. Immer öfter fuhr ich schräg rüber und hielt. Auf dem Rad kam ich mit dem einen Fuss kaum auf den Boden, streckte meine Hand jedoch nach oben zum Klingelknopf und versuchte irgendwie die Balance zu halten. Ein kluger Junge wäre vermutlich abgestiegen. Bald wackelten hinter einem Fenster die Gardinen und sein Kopf erschien. Erst kam der fassungslose Blick, dann ein Nicken oder ein blödes Grinsen. Wenig später ging die Tür auf und dann fuhren wir mit unseren kleinen Rädern durch die kühle Morgenluft und das Licht des erwachenden Tages zur Schule.
Wir saßen anfangs noch nicht zusammen, aber versuchten uns mit guten Leistungen und Nettigkeit bei der Klassenlehrerin einzuschmeicheln. Ja, spätestens seit der Zuckertüte standen wir auch in einem inoffiziellen Wettstreit, wer der bessere ist. Und Noten bieten ja ein klares Vergleichskriterium und liefert die Antwort, wer intelligent ist und wer blöd ist. Oh ja, wir haben uns damit immer aufgezogen. Na was haste für ne Zensur? hieß es oft nach Klassenarbeiten und Diktaten. Meistens kannten wir die Zensur des anderen schon vorher. Im Sport musste es natürlich ne 1 sein. Wer das nicht schaffte, war kein Junge. Und so stand uns oft die Verlegenheitsröte ins Gesicht geschrieben, wenn wir zugaben hab ne 2.
Unseren kleinen Wettstreit führten wir auch beim nachmittäglichen spielen weiter. Ich also mal wieder rüber, auf die Zehenspitzen stellen und klingeln bis ich das Klingeln nach draußen hörte. Dinnen bei den Schlachten Cowboy- und Indianerfiguren stritten wir schon mal heftig, wer denn nun da wen getroffen hatte, wer umfallen musste und nicht mehr weiter im Angriff auf ein Spielzeugfort vorrücken konnte. Beim Federball oder Tennis auf der Straße wurden imaginäre Linien gezogen, nebst Markierungen auf dem Bürgersteig. Und auch hier stritten wir bis zum geht nicht mehr, ob da ein entscheidender Ball drin oder aus war. Ab und zu ging ich eingeschnappt nach haus. Also so was uneinsichtiges, der schummelt sich ja jeden zweifelhaften Punkt zu. Wie will er das aus der Entfernung gesehen haben?
Dann entdeckten wir das Angeln. Er hatte seine Sachen ganz ordentlich in einem Angelrucksack und den guten Setzkescher auf dem Gepäckträger. Natürlich hatte ich auch einen, allerdings viel kleiner und Löchern. Meine Rollangel hatte ich über den Lenker geklemmt. Meine Trainigshose hatte ein Loch, seine war tip top. Nebeneinander starteten wir oft unseren Weg die Straße hinunter, bedeckt vom Blätterdach der Bäume, über die Schranke, den kleinen Hoppelweg entlang, durch die Felder bis zum kleinen See im Mischwald. Hier probierten wir alle Angelstellen durch - zwischen den großen Birken, schrägen Akazien, beim Schilf und an der Badestelle. Wie könnte es anders sein ging es auch hier um den dicksten Fisch, den spektakulärsten, den größten oder die meisten. Dafür angelten wir unter Büschen, platzierten den Köder zwischen Algen oder wetteiferten auch, wer am weitesten rauskam. Am weitesten raus bedeutete in unserer Logik auch, dass dort ja wohl die größten Fische sein müssen. Und so verbrachten wir hier viele Stunden und Tage, jahrein und jahraus. Wenn wir nicht gerade vor Aufregung standen, saßen wir - er auf seinem Angelstuhl und ich halt einfach auf dem feuchten Boden. Wird schon wieder trocken werden.
Fussball spielten wir auch sehr oft, abends mit anderen Jungs auf dem Schulsportplatz oder auf dem ollen Fussballplatz im Wald. In dem staubigen Platz verdreckten wir regelmäßig sämtliche Socken und Hosen. Mutti wäscht ja. Jedenfalls ging er meistens ins Tor, einer musste ja. Und ich machte mir ein Spaß daraus, Schüsse wie ein Strich auf seinen Kasten zu geben oder sie bei ihm oben ins Eck zu machen. Oft genug schüttelte er den Kopf. Denn die Bälle gingen munter rechts vorbei, links vorbei, übers Tor bis weit in den Wald hinein. In der Abendsonne fuhren wir Rad an Rad durch den Wald wieder nach haus.
Eines Tages sagte er mir, dass er umziehen müsse, nur im Ort. Das war ja okay, das schräg rüber ist nun halt ein paar Kilometer weit rüber. Es ging dann weiter wie gehabt. Ich klingelte, wir spielten drinnen, sauten uns beim Fussball ein oder fuhren zum Angeln.
Dann wechselte er aufs Gymnasium. Fand ich blöd. Ohne ihn in die Schule? Wie soll denn das aussehen. Den Wettstreit zwischen uns gab es ab sofort nicht mehr. Ich kam in eine neu zusammengewürfelte Klasse. Hier gab es auch einen Wettstreit, allerdings darum, wer sich dumm und noch dümmer geben konnte. Das stellte meine Weltsicht total auf den Kopf - und ich wurde zum Außenseiter. Ich wußte nicht wie ich diese Situation annehmen konnte. Ich wurde zum Buhmann, zum Streber - was bei dem niedrigen Leitungsniveau auch nicht sonderlich schwer war. Schlimmer noch kam ich gerade in die Pubertät - und sah die vollen Rundungen am Oberkörper der Mädels mit ganz anderen Augen. Die Mädels, die ich vorher ziemlich blöd gefunden habe - Nun, ab jetzt interessierte ihre Blödheit nicht mehr. Und ab jetzt übernahm meine Fantasie die Regie und spielte andauernd heiße Szenen in meinem Kopf ab. Aber ich war ja der Außenseiter - und das ließen sie mich mit gemeinen Worten oft genug spüren. ich war glücklich, wenn die Schule aus war, rannte zum rad und fuhr nach hause. Nun konnte ich ja auch wieder zu meinem Freund fahren und zusammen spielen. Mädels kennenlernen, außerhalb der Schule, in einem anderen Ort - die Vorstellung gab es nicht oder war mir zu furchtbar. Da müsste ich mich ja in die Fremde wagen. Naja, nach der 10 würde ich auch aufs Gymnasium wechseln und dort dann Mädels kennenlernen und zusammen mit meinem Freund Abitur machen. Wozu ist der denn sonst dahin geganen?
So konnte ich es auch nicht fassen als er mir eines Tages sagte, dass er nicht Abitur macht, sondern eine Lehre. Na gut, dann muss das wohl so sein. Ansonsten bleibt alles wie gehabt. Bald machte er Fahrschule und erhielt kurz darauf sein erstes Moped - kein Fahrrad mehr. Kein Fahrad mehr. Und dann noch der große Schutzhelm. Das ganz Bild war befremdend für mich. Aber jetzt hörte ich ihn schon von weitem, wenn er mich besuchte. Seine olle Knatterkiste röhrte wie ein Rasenmäher. Ungefähr in der Zeit entdeckten wir auch die Magazine meines Vaters, die er in der Schrankwand gehortet hatte. Die ero. darin sorgten bei uns für heiße Gedanken. Dass es dabei nicht bleiben würde, hatte ich nicht auf dem Schirm. Eines nachmittags besuchte ich ihn. Er blickte verhalten an mir herab, während ich mit einem Lächeln und lustigen Kommentaren die Schuhe auszog. Er kam mir irgendwie komisch vor, führte mich aber nicht in sein Zimmer, sondern zum Wohnzimmer. Ach Gott soll ich jetzt wieder mit seinen Eltern in der sterilen Atmosphäre Kaffee und Kuchen essen? Er öffnete die Tür, ich sah den Tisch und traute meinen Augen nicht. Da saß ... ein Mädchen, blond und ein wenig füllig, aber scheinbar ganz nett. Wann? Wie? Wo? Er? Wer? Wann hatte er denn die kennengelernt? Hat er mich gar nicht erzählt. Wie ich später erfuhr hatte er sich gerade von ihr getrennt. ich wußte nicht mal, dass er mit ihr zusammen war. Die Veränderung vor meinen Augen konnte ich gar nicht begreifen. Und noch weniger konnte ich begreifen, was seine zunehmende Entferung wieder für mich bedeutete; dass ich jetzt keinen Spielkameraden mehr hatte; dass ich jetzt wieder allein war; dass ich jetzt eigentlich auch Mädchen kennenlernen müsste.
Seine Welt hatte sich verändert und ich hatte meine eigentlich nur mit seiner irgendwie mitlaufen lassen - soweit es seine Änderungen zuließen. Nach der 10. wurde ich Gymnasiast und er angehender Einzelhandelskaufmann. In seine Welt traten die Berufsschule, ein Ausbildungsunternehmen und Arbeitskollegen. Sein Leben verlagerte sich mehr und mehr in die Stadt. Ich mochte seine dreisten Kollegen nicht sonderlich. Und ich verstand es auch nicht, dass er sich bei ihnen doch gut aufgehoben fühlte - und wir uns immer weiter entfernten. Ab und zu gingen wir nun schon in Discos ... na gut, neudeutsch Clubs oder was weiß ich. Dort lernte er seine künftige Frau kennen. Sie wirkte sehr einfach gestrikt, hatte käsig-weiche Wangen, ein müde Augen und ein liebes Lächeln. Ihre gewellten Haar hingen schlapp herab wie die Ohren eines Bernhardiners. Mit platten Kommentaren wollte sie was lustiges sagen - und lachte auch selbst darüber. Und er lächelte mit. Ich verstand gar nichts mehr. Ich dagegen sah mich auch schon um, ob da irgendwo im Club ein schönes Mädel wäre, die auch noch ein Lächeln in meine Richtung schickt. Aber alle, die mir gefielen, registrierten mich scheinbar nicht, War ja klar - mich, den Außenseiter, wer will den schon? Und so nistete ich mich so langsam aber sicher im Alleinsein ein. Es gab nur die heimliche Sehnsucht auf all die schönen Mädels, die ich hier und da sah. Im Bewusstsein ein Außenseiter zu sein, wagte ich nicht meine heimlichen Wünsche zu äußern - maximal ganz kryptisch. Erst als mein Schulfreund verschwand kam mein tatsächliches Alleinsein zum Vorschein - nur ich hatte es einfach nicht kapiert.