Das nette, ungeküsste Küken
Es mag ja Menschen geben, die glauben ganz fest daran: Wo die Liebe hinfällt, Liebe überwindet alles, was spielt denn das Alter für eine Rolle, wenn man sich liebt? Mir würden da beispielsweise sofort päd., Ödipuskomplexe, Realitätsverweigerung, nicht allein sein können und nicht zuletzt Dummheit einfallen.Es gibt ja da diesen schönen Spruch von Einstein mit dem Universum, der Unendlichkeit und der menschlichen Dummheit. Äh, ich schweife ab. Jedenfalls werden Altersunterschiede und Grenzen mit vielen Gründen relativiert und wegdiskutiert, um das persönliche Glück salonfähig zu machen. Der Altersunterschied wird nicht als eine Grenze, sondern die Grenze ignoriert.
Ich weiß, was ich schon alles gesehen und erlebt habe - die Dampfloks vor den ollen, grünen Personenwagen, Kreuzungen voller Trabbis, der Fall der Mauer, meinen ersten 10 DM-Schein, die Straßen von Thessaloniki und Makedonien, Russen-Kasernen. Jeder Mensch hat eine Geschichte, ein sozio-kulturelles Umfeld, in dem er aufgewachsen ist und mit dem er sich identifizieren kann - auch wenn es keine gute Welt-Geschichte ist. Je größer der Altersunterschied, desto kleiner die Schnittpunkte zwischen den Menschen. Klar, man kann das alles ignorieren, um sich ein bisschen vom großen Kuchen Liebe abzuschneiden. Wer will denn nicht auch ein bisschen Glück haben? Wer ohnehin nicht seine Grenzen kennt, lässt auch dem Altersunterschied keine Chance wenns doch um Liebe geht.
Es ist der Tag der großen Zusammenkunft. Aus allen Richtungen strömen die Leute zur Halle unterhalb der Autobahn. Auf dem Rasen drumherum versammeln sie sich am Getränkewagen oder vor dem Grill. Es riecht nach biergetränktem Kotelett. Hmmmm. Überall bilden sich kleine Grüppchen. Im Kreis stehen quasseln sie miteinander, lächeln und lachen oder die Gespräche plätschern nur so dahin. Drinnen spielt laute Musik. An den Tischen geht das Futtern, Trinken und Quatschen im Sitzen weitern. Blödeln ohne Grenzen. Und genauso wird auch nicht getanzt. Eins, zwei, drei ... eins, zwei, drei ... eins, zwei, drei ... tscha, tscha, tscha? Ach was! Hopsen und die ulkigsten Verrenkungen geben heute den Takt vor.
Und da mach ich natürlich nur allzugern mit. Keine Konventionen, keine Regeln, keine prüfenden Augen was macht der denn da? Gott, wie ist das schön! Mit mir hüpfen die jungen Sportler herum. Und ich freu mich, dass die jungen Hüpfer mein Mitgezappel nicht stört. Alle haben richtig gute Laune. Mit der Blondine neben mir wechsel ich ab und zu ein paar Worte. Quasseln geht ja hier nicht. Sie schaut mich jedesmal mit einem Lächeln an und gibt ein paar knappe Kommentare zurück. Ja, so fühl ich mich wohl. Endlich kann ich mal sein wie ich bin, leben wie ich fühle. Endlich mal kein Stress mit Weibern, endlich mal keine Attraktive in meinem Alter hier, die für mich interessant sein könnte - und ich für sie. Nur kann man mich erleben wie ich bin. Doch hier müssen sich die ollen Weiber und die jungen Küken mit mir begnügen. Allerdings fand ich diese Blicke von der jungschen Blondine schon komisch. So oft gelächelt und auch irgendwie ziemlich nah gekommen ... Neein, dummes Zeug. Die doch nicht. Das junge Küken. Die will doch nix von so nem ollen Mann wie mir. Und wenn doch? Oh bitte nicht! Dann müsste ich ja mal wieder was erklären, was ich nicht erklären will - warum ich nicht will. Und ich will nicht schon wieder diese Altersunterschiede-Diskussion führen müssen...
Einen Tag danach kommt, was kommen muss: Gerüchte, Provokationen. Es macht halt schon mal Spaß, dem einen oder anderen was anzudichten und auf den Arm zu nehmen. Ja, auch die Blicke der Blondine scheinen den anderen nicht entgangen zu sein Sag mal, hast du nicht gemerkt, dass...?, und wie wars mit ihr...? Ich verbuche das ganze als Ulk und meine natürlich ...was ich doch für ein Hengst war. Doch tatsächlich meldet sich bei mir ein Unbehagen. Wenn es doch keine Einbildung war? Klar, ich werde schon mitbekommen, was los ist. Ich werde sie ja irgendwann mal wieder sehen. Und dann schau ich mir noch mal genauer an wie sie sich mir gegenüber verhält. Bitte, bitte, bitte - lass sie mich genauso behandeln wie alle anderen. Dann bin ich fein raus und es gibt keine blöden Momente.
Ich frage mich nur, was so ne junge Frau von mir will. Sie sieht doch ganz gut aus, ist sympathisch und auch gebildet. Warum konzentriert sie sich nicht auf Männer in ihrem Alter. Es muss doch für sie ein leichtes sein, sympathische Männer kennenzulernen. Aber sie ist ruhig, um nicht zu sagen schweigsam - also wie ich vor 10 Jahren. Um ihr jegliche weitere Illusionen zu rauben, werde ich mich wohl mal wieder beim nächsten Treffen etwas kühler geben. Das mit dem festen Blick und regungslosen Mundwinkeln kann ich ja...
Doch ich habe den leisen Verdacht, dass es hier um mehr geht als sie abzuwimmeln. Vielmehr geht es auch darum, dass ich theoretisch meine Grenzen kenne und festgelegt habe. An denen halte ich mich mehr aus Ratslogkeit und Verzweiflung fest, denn aus Überzeugung. Die Gefühle und die Triebe sprechen eine Sprache, theoretische Grundsätze eben eine andere. Und beides in Einklang zu bringen fällt schwer, vor allem wenn ich selbst mit psychischen Defiziten zu kämpfen habe und nicht genau weiß wo und wie die zuschlagen.
Aber vielleicht könnte ich auch mal wieder mit dem Reden anfangen, als alles vorher im Kopf durchzuspielen. Fragen soll ja bekanntlich helfen.
17.10.2016 20:59 •
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