Der Zug fährt in den Bahnhof ein, hält und die Türen gehen auf. Ich stehe an der Tür, bereit schnell auszusteigen. Mit und nach mir tun das die weiteren Fahrgäste ebenfalls. Ich beachte sie nicht weiter und sie mich nicht. Der Strom mit mir geht zur Treppe, runter, durch die Wartehalle in die Durchgangspassage. Dort mischen sich der Strom von Regional- und Fernbahnreisenden mit S- und U-Bahnfahrern. Über 80 Jahre geht das schon so. Unzählige Leute sind hier durchgekommen. Jeder trägt seine Lebensgeschichte hier durch. Doch die Geschichten verschwinden in den Auf- und Abgängen, hinter Ein- und Ausgängen, in der Schnelligkeit und Hast - nicht zuletzt in der Gleichgltigkeit. Auch meine Geschichte kennt niemand.
Eine bestimmte Strecke führt in eine ganz bestimmte Lebensgeschichte. Über die Kreuzung geht mein Blick zum großen Kino. Nach außen trage ich die Gleichgültigkeit weiter vor mich her. Innen macht sich ein stumpfes Gefühl und Trauer breit. Mit meinen Schulkameraden habe ich das Kino das erste Mal besucht. Das Kino war ganz schön runtergekommen, doch sah innen aufregend aus. Doch die sind mir heute herzlich egal. Was mir mehr zu schaffen macht, ist die Frage nach Realität und dem Warum. Hier hatten wir uns verabredet - Chatpartner, darunter sie, die ihren Freund mitbrachte. Habe ich sie wirklich hier getroffen? Stand ich wirklich hier, Kinokarten gekauft, war ich eifersüchtig? Das letzte kann ich sofort bejahen. Der Rest der Fragen vrschwindet in der Bedeutungslosigkeit. Ich weiß nicht mal mehr, welchen Film wir gesehen habe. Nur, dass wir danach noch in nem Cafe zum Quatschen waren. Naja, das Kino wurde ja rundsaniert. Deswegen fühlt es sich vielleicht auch nicht mehr so real an, was ich hier erlebt habe.
Ein paar Schritte weiter steht immer noch das große Einkaufscenter. Auch das wurde runderneuert. Viele neue Geschäfte sind dazu gekommen, andere für immer verschwunden. Und zu einem verschwundenen Laden laufe ich mal wieder instinktiv hin. Weil ich mir ne Kaffee holen war würde ich vermutlich auf die Frage antworten, was ich denn im hintersten Winkel des Centers will. Kein Sterbenswörtchen über den sentimentalen Hintergund. Gegenüber war ein französisches Cafe. Es war nicht besonders herausgeputzt, die gelb bemalten Wände wirkten vergilbt im schummrigen Licht. Meistens war es halbvoll, selten saßen an allen Tischen Leute und tranken ihren Cafe au lait und unterhielten sich. Heute ist da ein Kramladen drin - und hat mein Erlebnis einfach so geschluckt, als hätte es hier nie Kaffee gegeben, keine Treffen und Gespräche.
Dabei traf ich ausgerechnet an diesem Ort zum ersten Mal das bezauberndste Geschöpf, dass ich jemals kennengelernt habe. Aus Nervosität, es könnt ja irgendwas dazwischen kommen, kam ich damals viel zu früh. Ratlos holt ich mir erstmal nen Kaffee, setzte mich an nen Tisch, trank entspannt und beobachtete die Leute, die Atmosphäre im Cafe. Schon eigenartig wie verschieden die Gesichter sein konnten: Ne Mädelsgruppe, Paare beim gemeinsamen Ausgehen, so ein paat übergeschnappte Kunst- und Kulturleute, verknöcherte Alte aus dem Reicheviertel.
Und in diese Menge platzte plötzlich eine atemberaubende Schönheit hinein. Schlang, großgewachsen, lange lockige Haare, schwarze Stoffhose, Lederschuhe mit Schnallen. Mit ihren wachen, strahlenden Augen suchte sie durch den Innenraum und ging langsam vorwärts. Mir kam es vor als würde sie nicht gehen, sondern schweben. An den Tischen verstummten kurz die Gespräche als sie vorbei kam. Und dann begann sie zu lächeln, als sie mich erblickte. Ich weiß nicht mehr, ob ich sie mit großen Augen angestarrt habe, meine Kinnlade schon längst auf dem Boden lag und was ich mit meiner Nervosität gemacht habe. Die war längst durch die Decke geschossen. Sie freute sich einfach nur, mich zu treffen und holte sich auch erstmal nen Kaffee. Die meiste Zeit redete sie. Ein Glück, ich war ja schwer angeschlagen von Begeisterung, Fassungslosigkeit, Ohnmacht und nicht zuletzt Sprachlosigkeit. Um über meine Nervosität und Sprachlosigkeit hinwegzutäuschen, mühte ich mich immer zu Kommentaren und eigenen Redebeiträgen. Ich wußte ja vom Bild her, dass sie gut aussah. Aber diese Realität sprengte wirklich alles, was ich bis dahin kennengelernt habe. Normalerweise ist es eher andersrum: Auf Bildern sehen die Mädels meist besser aus als in der Realität. Doch wie gesagt liegt diese Realität viele Jahre zurück, in einem Cafe, das es nicht mehr gibt, bei einer Frau, die längst aus meinem Leben verschwunden ist.
Was ist sie heute für mich? Ich weiß es nicht. Ihre Bedeutung für mich ist verblasst. Nur eine Botschaft ist geblieben: Es gibt bezaubernde Frauen. Ich weiß nur nicht, wo und wie ich die finde. Vor ihr hatte ich bezaubernd ins Reich von Filmen, Romanzen, Märchen und Illusionen verbannt. Nicht im Traum hätte ich diesen Begriff auf eine reale Frau angewendet.
30.07.2016 14:34 •
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