Lieber Liebeskummer,
auf Dich war wirklich Verlass. Hätte ich von Dir gehört, dass Du jemals so sehr mein Leben bestimmen würdest, dann hätte ich Dir nicht geglaubt. Nun sind wir beide etwas in die Jahre gekommen.
Vor zehn Jahren hattest Du mich beinahe umgebracht. Jetzt bist Du mir fremd; obwohl ich doch fast alles von Dir weiß. Du hattest sehr viel Macht. Ich habe Dich gefühlt, untersucht und dann untersuchen lassen. Du wolltest nicht gehen. Und so gewöhnte ich mich an Dich, Du chronisch aufdringlicher Begleiter.
Heute sehe ich Dich in Deinen verschiedenen Gewändern: Du warst ein hässliches Produkt meines gekränkten Egos. Eine späte Ausgeburt meiner Bedürftigkeit. Insgesamt mehr das Ergebnis des schlampigen Teiles meines Charakters, der nicht reifen konnte. Du warst in Deiner Hartnäckigkeit die Folge meiner maßlosen Unersättlichkeit für die ich keine Verantwortung tragen wollte. Du warst das Leid, das das Selbst verleidet.
In den besseren Zeiten hast Du mich herausgefordert mit Fragen, die ich mir stellen und beantworten musste. Lieber Liebeskummer, ich habe wirklich versucht Dich selbst, Deine Herkunft und Dein Werden zu begreifen. Ja, Du warst immer in mir. Es brauchte nur einen Auslöser für Deine Macht: Eine Person, die völlig arglos und unwissend allein durch ihre Erscheinung und Interesse den richtigen Knopf drückt. Begrabene Hoffnungen und Sehnsüchte duldeten da keinen Raum und keinen Widerspruch. Jetzt oder nie mehr. Es ging um Leben oder Tod. Du warst dabei der antreibende Folterknecht meiner Verzweiflung und Ohnmacht.
Es ist noch mal gerade so gut gegangen mit uns, lieber Liebeskummer. Ich bin nicht an einer Herzneurose gestorben, nicht von einer Brücke gesprungen und auch nicht zum Stalker geworden. Du aber bist mir inzwischen fremd und etwas peinlich. Vielleicht auch, weil mein Leben sich verändert hat, ich um meine Arbeit kämpfen muss, meine Knochen oft müde sind, die kleinen Wünsche bedeutsamer werden, weil ich Freundschaften habe und mich auch ohne Deinen Schmerz spüre.
Liebeskummer, ich habe Dich auch schlecht behandelt. Weil ich Deinen Auslöser zur Ursache gemacht habe. Dabei bist Du viel weiser gewesen als ich. Abschied von Dir ist auch ein Abschied von den Hoffnungen des enttäuschten Kindes, das ich mal war. Ich weiß durch Dich jetzt, dass ich nicht mehr sterbe, wenn mich heute jemand nicht will. Ich hoffe, ich habe von Dir gelernt.
Liebe Grüße
Ch.
25.02.2016 19:27 •
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