Caulius und die Liebe

E
Leonardo darf nicht untergehen!

Sieht er nicht aus wie Leonardo DiCaprio?' fragte Caulius Sitznachbarin als er noch dabei war, seine Schreibutensilien für die kommende Vorlesung hervorzukramen. Caulius schlüpfte mit dem Kopf aus seinem Rucksack, blinzelte zuerst seine Sitznachbarin an, um dann ihrem Blick bis zu einem Rücken zu folgen, der etwa 10 Reihen unter ihnen im Audimax saß.

'Naja, wie eine Wasserleiche sieht er ja nicht aus...', wollte Caulius witzig sein, doch seine Nachbarin verzog zu seiner Enttäuschung keinen Mundwinkel. 'Nun, von hinten sieht wahrscheinlich jeder zweite kleinwüchsige Mann wie Leonardo aus!'

'Du mußt ihn mal von vorne sehn', konterte seine Nachbarin.

Caulius riß ein Stück Papier aus seinem Block, lief die Treppe bis zum Mülleimer hinunter, um dann auf dem Rückweg einen unauffälligen Blick auf das Objekt der Begierde seiner Nachbarin zu werfen. Für Caulius sah er aus wie jeder andere Mann auch, von einem Leonardo keine Spur. Doch er nahm sich vor, es für sich zu behalten.

'Ich muß ihn kennenlernen', verkündete die Nachbarin bei Caulius Rückkehr. 'Nur wie?'

Das Audimax war groß und der Zulauf klein. Dreißig Besucher auf fümfhundert Plätzen, da sah kein Danebensetzen zufällig aus. Und einfach hingehen und die Gefühle beichten? Das war der Nachbarin zu aufdringlich. Aber wenn Caulius... Oh Gott nein wie peinlich...

Man kam auf die alte Papierfliegeridee mit der Telefonnummer. Doch ein Probeflieger bekam auf der Mitte des Weges in die Zugluft des Einganges und landete neben einem sowohl in Breite als auch Höhe doppelten Leonardo. Caulius und seine Nachbarin waren froh, daß dieser Probeflieger noch nicht mit einer Telefonnummer bestückt gewesen war.

Caulius Vorschlag, seine Nachbarin solle doch einfach ebenfalls etwas zum Mülleimer bringen, um dann auf dem Rückweg auf einen Blick und ein Lächeln zu hoffen, kam nie zur Ausführung, da in diesem Moment die Vorlesung begann.

Nach zähen neunzig Minuten des Grübelns und Verzagens sollte die alte 'Zufällige-Brührung-auf-der-Treppe' Anmache versucht werden. Caulius und seine Nachbarin lauerten aufgeregt, bis Leonardo zusammengepackt hatte und schlugen dann los. Doch der Versuch wurde jäh von Leonardos schwacher Blase vereitelt. Statt des direkten Weges suchte er zunächst die Toilette auf. Davor auf ihn zu warten erschien Caulius und seiner Nachbarin zu auffällig.

So postierten sie sich unten am Kaffeeautomaten, um dort auf eine weitere Chance zu hoffen.

Neue Möglichkeiten taten sich auf, als man merkte, daß Leonardo die Mensa aufsuchte. In einer aufdringlichen Zufälligkeit folgte man dem jungen Studenten, erschwert durch Massen von parkenden Autos auf dem Campus, um schließlich doch hinter ihm an der Schlange der Essensausgabe zum Stehen zu kommen. Mit Schrecken mußten sie festzustellen, daß weder Caulius, noch seine Nachbarin Essensmarken dabei hatten. Enttäuscht trotteten sie zur anderen Schlange und hofften, daß auch die Mensa I bald kennenlerngerecht umgebaut sein würde,

Doch noch gaben sie nicht auf. Das Essen war längst kalt geworden, als sie schließlich nach langem Suchen Leonardo allein an einem Tisch in der linken Ecke des Raumes entdeckten. Ohne Rücksicht auf Verluste an Beilagen stürmte Caulius Nachbarin voraus und als Caulius schnaufend und um die Hälfte seiner Pommes erleichtert auch am Tisch erschien, war Leonardo schon wieder verschwunden.

Caulius Nachbarin stocherte gedankenverloren in einer Putenoberkeule mit brauner Soße herum, als er sich ohne ein Wort zu sagen neben sie setzte.

'Er hat gesagt, daß bei der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt er es sich in seiner Ausbildung nicht leisten könne, emotionale Beziehungen einzugehen und ich mich, da ich doch ganz passabel aussehe, noch einmal melden sollte, wenn er einen guten Job gefunden habe. Es gehe schließlich um den Standort Deutschland.'

Seine Nachbarin blickte ihn mit großen traurigen Augen an.

'Hat er wirklich gesagt?', fragte Caulius nach, über soviel studentisches Verantwortungsbewußtsein verwundert.

'Hat er gesagt!' Die Putenoberkeule war nunmehr ganz in der braunen Soße zu einem Brei, in dem einige Knochen schwammen, aufgegangen.

Schweigend stellten beide ihre Tabletts auf das Förderband und verließen die Mensa in Richtung Parkhaus. Tröstend legte Caulius seinen Arm um seine Sitznachbarin, während ihr Kopf auf seiner Schulter zur Ruhe kam.

'Weißt du...', flüsterte Caulius sanft, '... die Leonardos sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren!'

Der Kopf auf seiner Schulter nickte kaum merklich. Zum Abschied gab sie Caulius einen Kuß auf die Backe und fügte hinzu, 'Außerdem ist Arbeitslosigkeit doch gar nicht so schlimm, wenn man zu zweit ist, oder?' So verabredeten sie sich schließlich, diesen Abend bei Kerzenschein ebenfalls etwas für die Sicherung des Standorts Deutschland zu tun... auf andere Weise.

Autor / Quelle: H.K.

24.09.2003 22:20 • #1