Manchmal fühle ich mich wie ein Beobachter, der den Menschen beim Leben zusieht. Nicht nur den anderen, sondern auch mir selber, als hätte ich die Realität schon längst verlassen und bin dem Gedankenzug ins Karussell gefolgt. In diesen Momenten kneife oder ohrfeige ich mich selber, nur um die äusseren Rezeptoren zu stimulieren, damit ich mich auf das Hier und Jetzt besinnen kann.
Trotzdem scheint alles so unwirklich.
Du, mein lieber Verwandter, mein alter Mann, bist für mich mehr als Familie. Auch wenn du nicht Teil des Prozesses der Zeugung warst, bist du mehr Vater als mein Erzeuger es je sein konnte. Und jetzt sitzt du da, grinst mich an, wir rauchen beide eine Zigarre und hoffen, dass es nicht die letzte sein wird. Wir reissen übertrieben sarkastische, fast schon masochistische Galgenhumorwitze und können vor lachen nur noch heulen. Oder wir lachen, um zu heulen, damit wir nicht wegen den eigentlich Tatsachen Tränen vergiessen.
Ich versuche gedanklich zu begreifen, wie du dich fühlen musst, wenn es mich schon jedes mal wieder zerreisst und ich bewundere deine Haltung, deinen Stolz und deine Lebensenergie. Aber auch hier schnellt mein Puls in die Höhe und mir fehlt die Luft zu atmen, denn deine Lust weicht jeden Tag mehr aus deinen Augen.
Ich fühle mit dir, alter Mann. Ich weiss nicht, wie ich damit umgehen würde, jede Woche gesagt zu bekommen, dass es keine guten Nachrichten gibt. Dass sie immer noch keinen Grund für diese abnormale Reaktion gefunden haben. Dass die Therapie nicht richtig anschlägt und sie dich weiterhin nur mit Schmerzmitteln vollpumpen können. Und dass es jede Woche immer schlechter werden könnte oder sofort vorbei sein kann. Durch die Schmerzmittel leidest du, jedoch überdecken sie die grössten Schmerzen und betäuben dich und dein Leben.
Ist es nicht amüsant, dass du sterbenskrank bist, von der Krankheit selber nichts merkst, die Therapie dich jedoch schwächt? Ironie auf dem höchsten Niveau.
Ich hab dich lieb, alter Mann und wünsche mir nichts sehnlicheres, als dass du deine Lust am Leben nie verlieren wirst. Denn verlierst du sie, verlierst du den Kampf und bisher hast du keinen Kampf verloren.
In töchterlicher Liebe,
dein Braten.
27.07.2017 00:03 •
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