Liebes Gretchen,
ich habe mir jetzt zwei Tage deine Geschichte durchgelesen. Nicht alles, aber bestimmt fast alle deine Beiträge und vieles drumherum aus der Diskussion. Sie hat mich an die Buddenbrooks erinnert, der langsame Zerfall eines beachtlichen Familienunternehmens. Wenn man glaubt es geht nicht mehr schlimmer, kommt noch einer oben drauf.
Beim Lesen kam mir immer wieder der Gedanke ob dir wohl hier jemand die Gretchenfrage stellen wird. Ich war etwas enttäuscht, als ich auf den letzten Seiten des Stranges deine Antwort darauf las. Du schreibst, du glaubst nicht an Gott. Und im selben Beitrag zweifelst du an einer erfüllten langjährigen Liebe (bis über 60 hinaus). Hast du überhaupt an Liebe geglaubt, und wenn ja, an welche? Hier setzt der Gedanke an, den ich dir für dein Leben mitgeben möchte.
Weißt du, dir fehlt einiges zum echten Gretchen. Gretchen ist ein tiefgläubiger Mensch. Nicht umsonst stellt sie Faust die Gretchenfrage und bekommt eine sehr verklärte Antwort, die stilisiert seinen (und auch Goethes) Unglauben zum Ausdruck bringt. Und auch im Kerker glaubt sie Faustens Versprechen nicht mehr sondern entscheidet sich für ihren Glauben. Sie gesteht sich einen Fehler ein. Das bekräftigt sie mit der Buße. Glaubst du ohne Glauben wäre sie nach ihrem Tod in Gottes Arme aufgenommen worden? Glaubst du sie hätte den Weg zu Ihm gefunden? Ich glaube sie wäre immer noch im Kerker.
Dass du nicht an die Liebe glaubst, ist eng mit deinem fehlenden Glauben an Gott verbunden. Liebe wird in den meisten Religionen mit Gott gleichgesetzt. Die göttliche Liebe ist die, die bleibt, wenn die Leidenschaft nicht mehr die Beziehung dominiert, die Paare glücklich ins hohe Alter begleitet. Von ihr schreibt Paulus
Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig, sie neidet nicht,
die Liebe tut nicht groß, sie bläht sich nicht auf,
sie benimmt sich nicht unanständig, sie sucht nicht das Ihre,
sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet Böses nicht zu,
sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit; sondern sie freut sich mit der Wahrheit,
sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie erduldet alles.
Die Liebe vergeht niemals.
Diese Liebe ist es, nach der sich jeder sehnt, die man sich von seinem Partner wünscht, und die einen selbst mehr erfüllt als alles andere, wenn man jemanden so lieben darf. Aber die Liebe ist nicht rational, sie ist nicht logisch und auch nicht kognitiv fassbar, da sie uneingeschränkt in Vorleistung geht, und wenn der Partner nicht so liebt, dann ist sie (scheinbar) nachteilig. Siehe Gefangenendilemma. Diese Liebe ist wie Gott transzendent. Und kann nicht mit pointierten Analysen begriffen werden. Der Verstand kann sie nicht begreifen, da er dazu da ist, das Rationale zu erkennen. Um das Transzendente zu erkennen hat der Mensch die Fähigkeit zu Glauben. Diese ist bei vielen intellektuellen Menschen etwas verkümmert, bzw. zählt als viel zu gewöhnlich um sich ihrer bewusst zu bedienen. Wie wahrscheinlich auch bei Goethe, der wohl nicht weit über die schwärmerische Liebe hinaus gekommen ist. Dann schon eher Schiller, Zeile 88 bis 132 aus dem Lied von der Glocke, kann ich nur empfehlen. Daraus auch
...
Die Leidenschaft flieht!
Die Liebe muss bleiben,
Die Blume verblüht,
Die Frucht muss treiben
...
Nachdem bei mir einmal eine langjährige Beziehung nach vielem Hin und Her in die Brüche gegangen war, und ich mein nicht enden wollendes Leid meiner Mutter klagte, traf mich ihre damalige Antwort wie der Blitz, sie sagte: Mensch Junge, habt ihr denn für solche Situationen nichts in der Schule gelernt. Ich dachte nur, auf welchem Stern lebt denn meine Mutter. So etwas lernt
man hier nicht in der Schule. Und tatsächlich, ich hab gelernt wie man sich in den Liebeswahn hinein steigert (Werther) und wie man aus Mücken einen Elefanten macht (Effi Briest). Aber wie man Beziehungen führt, keine Spur. Seitdem hab ich in Fragen Leibe und Beziehung die deutsche Literatur bei Seite gelegt, und nach anderen Quellen gesucht.
Ich will mit meinem Beitrag nicht das Festhalten an deiner Beziehung nahe legen. Ihr habt beide die Ehe mehrfach gebrochen. Für einen echten Neuanfang bräuchtet ihr ein richtiges Wunder. (Sagte nicht Goethe im Faust: Wer Wunder sehen will, der Stärke seinen Glauben.) Ich glaube auch nicht, dass deine Beziehung zu Thor langfristig sein wird, da ihr euch beide hauptsächlich nehmt was ihr braucht, was für euch gut ist. Irgendwann werdet ihr es einfordern und dann gibt es entweder die Flucht, oder ein Gezerre und dann die Flucht. Aber für deinen weiteren Lebensweg will ich dir einfach mitgeben:
Denke über die Gretchenfrage nach.
16.09.2019 15:18 •
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