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Vom Zerrissenwordensein

DieSeherin
puh, das sind aber informationen, die ein wenig früher rausgelassen, sehr hilfreich gewesen wären!

war/ist deine freundin so richtig auf h?

16.04.2019 15:03 • #46


M
So richtig nicht. Aber ich kann es dir nicht sicher sagen. Ich weiß, dass sie starke Opioide nimmt (heroinartig), das Ganze mit anderen Substanzen mixt (polytox), also je nach Tagesprogramm. Ich habe das teilweise auf mich bezogen. Als Kind dachte ich, ich sei zuviel gewesen. Bei ihr fast dasselbe Gefühl. Ich bin kein Schwein, kein Choleriker, kein Quäler oder was weiß ich. Aber nah konnte ich ihr so nicht mehr kommen.

Vielleicht auch jetzt nochmal der Hineweis auf meinen Eingangspost: Im Dezember war sie 2 oder 3 Tage nüchtern und hat in dieser Zeit den Adventskalender gebastelt, entschieden, dass wir zusammen an einen für uns angenehmeren Ort ziehen, sie mich noch liebe und vor allem in eine Entzugsklinik zu gehen. Was auch immer das war, es ist jetzt tot.

16.04.2019 15:13 • #47


A


Vom Zerrissenwordensein

x 3


M
Zitat von DieSeherin:

hmmm... musst du da denn rauskommen? oder musst du da komplett rauskommen? oder bist du plötzlich ganz du selber, wenn du dich geborgen und sicher fühlst?



Sorry, hatte ich überlesen.

Ganz rauskommen gewiss nicht. Ich kenn das andere halt nicht. Habe wohl einige Entwicklungsstufen übersprungen. Hab mal gehört, dass wir alle mit offenen Kanälen geboren werden, die sich dann im Laufe des Heranwachsens schließen, weil ein natürliches Vertrauen entwickelt worden ist. Ansonsten ist man das, was heutzutage hochsensibel genannt wird. Durchaus wichtig, um andere früh genug zu warnen. Aber, das sag ich einfach mal aus eigener Erfahrung, massiv anstrengend.

16.04.2019 15:17 • #48


DieSeherin
bei einem menschen, der so tief in der sucht drinsteckt, kannst du nicht wirklich was machen. dass du es allerdings versucht hast und dabei deine emotionalen grenzen gewaltig überschritten hast, liegt ganz bestimmt daran, dass du die erlebnisse deiner kindheit einfach in dir drin stecken hast.

küchenpsychologisch: wenn du schon deine mutter nicht retten konntest und ihre ganze zuwendung als dank bekommen hast, dann versuchst du es halt mit dieser frau!

(und ich bin mit einer manisch-depressiven mutter aúfgewachsen, die sich auch des öfteren weg-gebeamt hat und habe einen bruder an die heroinsucht verloren... ich weiß also ein wenig, von was ich rede)

16.04.2019 15:41 • x 2 #49


H
Deine Ex-Partnerin hat nach deiner Beschreibung Borderlineaspekte.

Und du bist in dieser Beziehung scheinbar emotional abhängig gemacht worden.

16.04.2019 17:37 • #50


A
Zitat von Mercurius:
Und das ist ein absolutes Grundbedürfnis. Wirklich gesehen zu werden.

Zitat von Mercurius:
Aber ohne Maske und Kostüm fühl ich mich ausgeliefert.


Was glaubst Du zu wissen passiert, wenn Du Dich ohne Masken zeigst?

Du sitzt ihr imaginär gegenüber und zeigst Dich, mit allem was in Dir ist und im Moment der Imagination nach außen drängt.

Wer sitzt dann da?

Wie reagiert sie?

Gibt es jemanden der Dich kennt?
Gibt es jemanden der Dich liebt?

Angst die Dich hindert am Leben teilzunehmen?

Du nimmst doch teil.

Und wie.
So wie ich Dich lese, hast Du mehr erlebt, gelebt und dabei begriffen wie manch anderer.

Es sind Entscheidungen die Du triffst und nicht so dezidiert hinterfragst wie die Entscheidungen die andere treffen- warum nicht?
Wenn Du aus demNebel trittst- was ist im Außen?
Was glaubst Du erwartet Dich da?
Was ist Deine Hoffnung?

16.04.2019 17:40 • x 1 #51


E-Claire
Lieber @Mercurius

Danke für Deine nähere Erklärung und Deine Offenheit. Und vor allem anderen, es tut mir unendlich leid, was Dir und Deinem Bruder geschehen ist.
Es macht mich unglaublich betroffen und es ist schlicht und ergreifend ungerecht, ein solches Erbe schon als Kind antreten zu müssen.
Falls Du ein bißchen hier im Forum bleibst, wirst Du die eine oder andere Geschichte von sehr unglücklichen, unfairen und tragischen Kindheiten entdecken, je nach Lesart werden sie Dir vielleicht zeigen können, daß man nicht dieses Kind bleiben muß oder in dieser Kindheit verharren. Sie werden Dir aber womöglich auch zeigen, wie tief die Verletzungen gehen können und daß mit Zeit und Arbeit womöglich die Wunden heilen, Narben bleiben aber zurück, zumeist für immer.

Alles, was ich im weiteren schreibe, behandelt Beobachtungen, meine Erfahrungen, meinen jetzigen Wissensstand und meine höchstpersönlichen Ansichten. Sie können auf Dich zutreffen, sie müssen es nicht. Selbst wenn ich mal den Konjunktiv vergesse, dem Ganzen kein, ich glaube, voranstelle, ich bin kein Profi, wir kennen einander nicht, es ist nur eine mögliche Perspektive.

Zitat von Mercurius:
Meine Ex hat mir erst nach einer Weile gebeichtet, dass sie konsumiert, respektive konsumiert hat. Ich war absolut fassungslos und distanzierte mich. Sie hat mich dann u.a. damit beschwichtigt, dass sie es nicht mehr täte und wenn, dann nur in geringen Dosen. Vielleicht wollte ich mich nochmal quälen lassen.

Ich glaube, du bist schlau genug, Dich mit Mustern und Wahrscheinlichkeiten vertraut zu machen, vielleicht hast Du es ja auch schon getan.

Die allgemein kolportierte Wahrheit ist, daß wir alle dazu neigen, so zu werden wie unsere Eltern. Mich erstaunt (fast kindlich) bis heute immer wieder, wie manche Menschen fast im Vorbeigehen sagen, ich werde es aber ganz anders als meine Mutter/mein Vater machen. Insofern ist Dir natürlich zu Deiner Substanzfreiheit auch erst einmal zu gratulieren. Damit hast Du immerhin bis zum jetzigen Zeitpunkt eine Hürde genommen, an der viele andere mit gleicher Geschichte bereits scheitern.

Warum hast ausgerechnet Du Dir aus allen vorhandenen Kandidaten, die Konsumentin herausgesucht? Ich befürchte, da Banalität ja auch immer etwas arg Mittelmäßiges anhaftet, weil wir uns nunmal instinktiv zu dem hingezogen fühlen, was wir auch kennen.

Daneben besteht das Trauma des Kindes, eine Situation heilen zu wollen, um endlich die Erlösung, Anerkennung, das von Dir beschriebene Gesehen werden zu erfahren, welches als Sehnsucht in einen solchen Kind zutiefst verankert ist.

So weit, so bekannt.

Woher aber kommt dann diese Ambivalenz? Wieso befindet man sich -trotz vermeintlich besserem Wissens- dann doch in der Situation, in der man nicht sein wollte?
Da können wir jetzt natürlich über das innere Kind, unsichere Bindungsmuster und viele andere nette, schlaue Dinge plaudern und all dies ist sicher auch zutreffend und wird Dir früher oder später, wenn du Dorothy's Weg wählst, in Gestalt der Vogelscheuche, des Blechmanns und des Löwen eh auf die eine oder andere Art begegnen, persönlich glaube ich aber, daß es bei Elternhäusern mit Substanzmißbrauch oder mentalen Erkrankungen, an einer noch anderen Stelle anfangt, nämlich mit einem Irrtum.

Als Du also von der ehemaligen Traumfrau, dann doch ins Bilde über ihren (Wieder)Konsum gesetzt wurdest, bist Du nicht gegangen. Vielleicht, so schreibst Du, weil du Dich quälen lassen wolltest.
Weißt du was, nein, das glaube ich nicht. Ich finde es auch nicht verwunderlich, daß ausgerechnet Du (!), an so ne Braut geraten bist.

Ich glaube, Du hast extrem logisch, rational, nachvollziehbar und liebevoll reagiert.

Nur eben basierend auf einem Irrtum.

Der Irrtum liegt in der Prämisse, daß morgen alles anders sein kann. Erweitert gesprochen, in der Prämisse, daß von heute auf morgen Veränderung eintritt.

Pause.
Nachdenken.
von heute auf morgen, immer und immer wieder.



Jetzt kommen natürlich drölfzig schlaue Menschen, um die Ecke marschiert und werden sagen, aber wie kannst Du so etwas nur glauben, wenn jede Statistik... und ich habe auch schon mal ein Buch gelesen. Weitere drei sagen, ey ich habe Erfahrung mit Konsumenten, das hört nie auf, glaub mir einfach und noch mal fünf, die sagen, aber das muß dir gerade mit Deiner Geschichte, so etwas von klar gewesen sein, daß des ned passiert. Ach und fünf von den Leuten trägst Du eh auch noch fein brav in Dir.

Tja, ne und jetzt kommt so ein E-Claire daher, von Beruf Kaffeesatzleserin mit Abschluss schlaues Kind und sagt fein lächelnd Folgendes: Ich glaube keiner Statistik, die ich nicht selbst gefälscht habe, um mal Churchill zu zitieren oder einfach, alles schön und gut, aber das ist kein Glaubenssatz sondern beruht auf gemachter Erfahrung.

Jemand, der konsumiert und dann mal wieder nicht, verändert sich von einem Tag auf den anderen. Kind von so jemandem zu sein, bedeutet 100 oder 1000 Versprechungen zum Thema gehört zu haben. Jemand, der so groß geworden ist, erlebt Verheimlichung, die Kinder sehr wohl, die sind ja nicht doof, mitbekommen, aber nicht einordnen können und erlebt pausenlose Instabilität.
Daraus entstehen zwei Dinge: der absolute Glaube, daß Veränderung von einem auf den anderen Tag möglich ist (egal was Logik, Ratio oder Kenntnis der Wissenschaft dazu sagen) und das Verlangen nach Kontrolle. (Kinder glauben, müssen in bestimmten Entwicklungsstadien daran glauben, daß Umwelt kontrollierbar ist. Später werden daraus unendlich leistungsorientierte, extrem unsichere Erwachsene, die absolut den Boden unter den Füßen verlieren, wenn sie Kontrolle (Führung) abgeben sollen).

Dein ganzes Handeln basierte auf einer falschen Annahme. Nicht weil Du es nicht besser weißt, nicht weil Du doof bist, nicht weil Du glaubst, Du hättest es nicht besser verdient (ok, das ist auch ne Hausnummer und echt auch noch ma ein Brocken, aber nicht das Hauptproblem), sondern schlicht, weil Du erfahren, gelernt, gelebt hast, daß Veränderung von einem auf den anderen Tag möglich ist.

Die Prämisse war einfach falsch.

Jetzt kommen natürlich wieder unsere drölfzig Freunde, um die Ecke marschiert und sagen, also, selbst wenn wir unterstellen, das das stimmt, dann müßtest Du ja am besten wissen, daß die Veränderung nie eine langfristige war.

Dramaturgisch, Du bist der Profi, müssen wir an dieser Stelle jetzt das Bühnenbild teilen (hoffe da habt ihr ne ordentliche Assistenz, die werden heute eh nicht gut genug bezahlt). Wissen und Erfahrung sind zwei völlig verschiedene Dinge. Du kämpfst einerseits nicht gegen Logik, sondern gegen immer wieder gemachte Erfahrung. Ich habe vier Jahre gebraucht, um nicht mehr Samstag zum Postkasten zu gehen, weil es bei uns Samstag keine Post gibt, aber ich das halt 20+ Jahre so erfahren habe und natürlich wußte ich nach zwei Wochen, daß es hier keine Post am Samstag gibt.

Auf der anderen Seite des Bühnenbilds steht jetzt ein kleiner Junge, der sich so sehr wünscht, daß Mama einen Brief am Samstag schickt.
Erfahrung verknüpft mit emotionaler Sehnsucht?

Natürlich hast Du ihr geglaubt, weil es logisch, in Deiner Welt rational und in Deiner Welt liebevoll ist. Und weil Kinder ihren Eltern verzeihen, verzeihen müssen.

Mercurius, Du hast Dich nicht weiter quälen wollen im Gegenteil, Du hast basierend auf Deinen Erfahrungen und dem, wie Du Liebe verstehst, eine zutiefst liebevolle Entscheidung getroffen.

Dorothy ist also mittlerweile in der Smaragdenstadt (sorry, wenn ich da Formulierungen durcheinander werfe, ich beziehe mich eigentlich auf Wolkow, nicht der Regisseur sondern Schriftsteller) angekommen und hat halt die grüne Brille auf.
Hier ist die Herausforderung, die Stadt ist nicht grün. Deine gemachten Erfahrungen sind absolut valide.

Und an dieser Stelle auch eine Entschuldigung meinerseits, was ich vorhin als umauthentisch und ein wenig eindimensional, versteckt in schlauen Worten -daran halte ich fest- wahrnahm, war eigentlich Kindererfahrung und Kinderglaube, die sind halt wenig bis gar nicht differenzierend.

Die Herausforderung ist, umzulernen. Es gibt keine Veränderung von heute auf morgen, jedenfalls nicht bei Menschen. Ich sage nicht, daß es Menschen nicht gelingt, sich zu ändern oder umzulernen. Aber ich sage, es gelingt nicht einfach so, es gelingt nicht per Entschluss only und es ist alles aber kein einfach nur ein Schritt vor den anderen setzenden immer geradeaus Weg.

Fazit, wir geben heute mal nicht so ein modernes Stück, wo sich hinterher jeder seine Meinung bilden kann, sondern nen etwas Moralin-sauren Deutschen, so mit Zeigefinger und Kinder lernt was Epilog:

Deine Prämisse ist falsch.
Deine Kindersehnsucht extrem verständlich und berührend, aber ausgestattet mit den Insignien eines Erwachsenen womöglich alles nur nicht zielführend und eventuell auch gefahrbringend.

Was man damit macht?
Ach naja, Du hattest mich doch gefragt, was mich glücklich machen würde, ne

Also was mich für heute, in diesem Moment glücklich machen würde, ist neben meinem wunderbaren Glas Zweigelt, was ich mit Halsschmerzen nimmer trinken sollte, vor allem, daß Du vielleicht, unter Umständen, nur mal so am Rande, die Möglichkeit in Betracht ziehst, daß vermeintliche Seelenverwandte, einem nicht aus Heiratszwecken begegnen, sondern sie einem die Möglichkeit verschaffen, an sich selbst zu wachsen.
Praxistip: wenn Menschen sich nur schwer und mit Aufwand verändern und Du noch dazu in einem Umfeld tätig bist, was Ladies, wie Deine ehemalige eher anzieht, vielleicht doch mal nen Profi in Erwägung ziehen.

Ach und weil Du ja vorhin geklärt hattest, daß Du ein Rechthaber bist (meine Wortwahl nicht Deine), willste jetzt sicher ne Quellenangabe.
Woher ich all das vermeintlich weiß, noch mal, es muß nicht zutreffen, keiner in diesem Forum ist allein.

Hab einen schönen Abend.

16.04.2019 17:46 • x 6 #52


F
@E-Claire ganz toller Beitrag!

16.04.2019 21:20 • x 3 #53


M
Zitat von Anders:


Was glaubst Du zu wissen passiert, wenn Du Dich ohne Masken zeigst?

Du sitzt ihr imaginär gegenüber und zeigst Dich, mit allem was in Dir ist und im Moment der Imagination nach außen drängt.

Wer sitzt dann da?

Wie reagiert sie?

Gibt es jemanden der Dich kennt?
Gibt es jemanden der Dich liebt?

Angst die Dich hindert am Leben teilzunehmen?

Du nimmst doch teil.

Und wie.
So wie ich Dich lese, hast Du mehr erlebt, gelebt und dabei begriffen wie manch anderer.

Es sind Entscheidungen die Du triffst und nicht so dezidiert hinterfragst wie die Entscheidungen die andere treffen- warum nicht?
Wenn Du aus demNebel trittst- was ist im Außen?
Was glaubst Du erwartet Dich da?
Was ist Deine Hoffnung?


Ohne Maske wäre ich der Meute ausgeliefert. Einige würdens ertragen. Andere würden sich abwenden, vielleicht angreifen. Die Frage ist schwer, weil ich mich nicht mehr daran erinnern kann, wie das ohne Maske war. Ich habe in der Oberstufe eine Osterrede in einer kleinen Kirche über Maskentragen gehalten. Und später im ersten Studium in einer Vorstellungsrunde, in der wir Requisiten aus einer Kiste nehmen sollten, die nach unserer Empfindung besonders gut zu uns passten, eine Maske verwendet und erklärt, ohne das gäbe es mich nicht. Dadurch habe ich den intelligentesten Menschen, der mir je begegnete, berührt. Leider ist er seit über 10 Jahren aus meinem Blickfeld verschwunden. Ich habe erkannt: Ich bin voller Angst. Konkreter noch: Voller Nächstenfurcht. Versteht ihr das? Wer kennt das überhaupt? Soetwas habe ich noch niemandem mitgeteilt.

Ich sitze vor ihr: Bebend, im Innern herrscht große Hitze, die heraus strömen möchte, aber ich lasse sie nicht. Ich schaue und schaue nicht weg, denn ich will, dass sie mich auch anschaut und sieht, wie wütend ich bin. Dass ich immer kämpfe und gekämpft habe und oft gegegn Windmühlen und sie ist eine davon und es brennt so stark in mir, dass ich alles entflammen könnte. Und dann kommt Sehnsucht und ich möchte ihr die Wange streicheln und sagen, dass endlich alles gut wird. Es darf doch auch mal alles gut sein. Ich wünsche mir so sehr, dass es einmal gut ist. Dass der Terror nicht stattfindet, der permanent bedrängt. Und jetzt folgt unermessliche Traurigkeit...

Wie sie reagiert? Sie schaut hin und wieder zurück, ihre Lippen pressen aufeinander als würde sie zu Sagendes unterdrücken. Sie überdehnt ihren Kopf - wie so häufig - bis es laut knackt und dabei stöhnt sie, denn sie fühlt sich überlastet. Sie deutet ein Lächeln an und schaut dann in eine andere Richtung, immer starrer, glasiger, nebelhafter. Nun ist sie sehr weit weg.

Gibt es jemanden, der mich kennt? Mich.
Gibt es jemanden, der mich liebt? Trotz allem meine Mutter und meinen Vater auch, so wie sie eben können. Verschiedene Freunde. Aber ich weiß nicht, ob es Bewunderung oder Liebe ist. Oder irgendetwas anderes.

Am Leben teilnehmen heißt für mich: Lebendigsein, den Dingen nahwerden, in Verbindung gehen. Meine Vorstellung ist, dass das natürlicherweise passiert und nicht erreicht werden muss. Ich schaffe das ausnahmslos in der Natur. Aber sie ist nur ein Teil des großen Gefüges. In der wirbelnden Gesellschaft, also unter Mitmenschen, fühle ich mich unbeteiligt. Und fremd. MIch ficht nicht an, shoppen, zechen, dinnieren zu gehen. Ich empfinde nichts auf Festivals oder bei irgendwelchen Comedyserien, in denen Lachkonserven hineingespielt werden. Stattdessen beobachte ich, wie große Massen lachen, jauchzen, tanzen und sich gehen lassen. Das meine ich wohl damit. Sie haben sich auf die Bedingungen eingelassen und machen mit. Das imponiert mir und macht mich neidisch. Was hab ich davon, viel erlebt und meinetwegen auch verstanden zu haben, wenn ich am Ende des Tages auf mich selbst zurückgeworfen voller Hunger auf Amlebensein im Bett liege und ernste Gedanken habe? Ich wünsche mir Leichtigkeit, Weichheit, Lebensfreude.

Womit du mir enorm hilfst: MIt dem Angebot, mir meine Versionen anzusehen und zu spüren, was dieselben mit mir machen. Ich sehe glasklar die eine souveräne und kluge Version, die gescheit, gerecht und liebevoll mit ihren Mitwesen umgeht und mich erfüllt. Die will ich pflegen.

Vom Nebel ins Außen oder besser: Innen bedeutet mir zum einen, wirkllich gesehen zu werden, denn im Nebel sieht mich keiner und zum anderen endlich Herdenwärme, Nähe und Vertrauen zu spüren. Meine Hoffnung ist, dass es dann endlich gut sein darf. Dass ich nicht mehr auf der Hut sein brauche. Unter Anspannung, Misstrauen und Zweifel. Hingeben, freuen, lachen.

17.04.2019 08:47 • #54


M
Zitat von E-Claire:
Lieber @Mercurius

Danke für Deine nähere Erklärung und Deine Offenheit. Und vor allem anderen, es tut mir unendlich leid, was Dir und Deinem Bruder geschehen ist.
Es macht mich unglaublich betroffen und es ist schlicht und ergreifend ungerecht, ein solches Erbe schon als Kind antreten zu müssen.
Falls Du ein bißchen hier im Forum bleibst, wirst Du die eine oder andere Geschichte von sehr unglücklichen, unfairen und tragischen Kindheiten entdecken, je nach Lesart werden sie Dir vielleicht zeigen können, daß man nicht dieses Kind bleiben muß oder in dieser Kindheit verharren. Sie werden Dir aber womöglich auch zeigen, wie tief die Verletzungen gehen können und daß mit Zeit und Arbeit womöglich die Wunden heilen, Narben bleiben aber zurück, zumeist für immer.

Alles, was ich im weiteren schreibe, behandelt Beobachtungen, meine Erfahrungen, meinen jetzigen Wissensstand und meine höchstpersönlichen Ansichten. Sie können auf Dich zutreffen, sie müssen es nicht. Selbst wenn ich mal den Konjunktiv vergesse, dem Ganzen kein, ich glaube, voranstelle, ich bin kein Profi, wir kennen einander nicht, es ist nur eine mögliche Perspektive.


Ich glaube, du bist schlau genug, Dich mit Mustern und Wahrscheinlichkeiten vertraut zu machen, vielleicht hast Du es ja auch schon getan.

Die allgemein kolportierte Wahrheit ist, daß wir alle dazu neigen, so zu werden wie unsere Eltern. Mich erstaunt (fast kindlich) bis heute immer wieder, wie manche Menschen fast im Vorbeigehen sagen, ich werde es aber ganz anders als meine Mutter/mein Vater machen. Insofern ist Dir natürlich zu Deiner Substanzfreiheit auch erst einmal zu gratulieren. Damit hast Du immerhin bis zum jetzigen Zeitpunkt eine Hürde genommen, an der viele andere mit gleicher Geschichte bereits scheitern.

Warum hast ausgerechnet Du Dir aus allen vorhandenen Kandidaten, die Konsumentin herausgesucht? Ich befürchte, da Banalität ja auch immer etwas arg Mittelmäßiges anhaftet, weil wir uns nunmal instinktiv zu dem hingezogen fühlen, was wir auch kennen.

Daneben besteht das Trauma des Kindes, eine Situation heilen zu wollen, um endlich die Erlösung, Anerkennung, das von Dir beschriebene Gesehen werden zu erfahren, welches als Sehnsucht in einen solchen Kind zutiefst verankert ist.

So weit, so bekannt.

Woher aber kommt dann diese Ambivalenz? Wieso befindet man sich -trotz vermeintlich besserem Wissens- dann doch in der Situation, in der man nicht sein wollte?
Da können wir jetzt natürlich über das innere Kind, unsichere Bindungsmuster und viele andere nette, schlaue Dinge plaudern und all dies ist sicher auch zutreffend und wird Dir früher oder später, wenn du Dorothy's Weg wählst, in Gestalt der Vogelscheuche, des Blechmanns und des Löwen eh auf die eine oder andere Art begegnen, persönlich glaube ich aber, daß es bei Elternhäusern mit Substanzmißbrauch oder mentalen Erkrankungen, an einer noch anderen Stelle anfangt, nämlich mit einem Irrtum.

Als Du also von der ehemaligen Traumfrau, dann doch ins Bilde über ihren (Wieder)Konsum gesetzt wurdest, bist Du nicht gegangen. Vielleicht, so schreibst Du, weil du Dich quälen lassen wolltest.
Weißt du was, nein, das glaube ich nicht. Ich finde es auch nicht verwunderlich, daß ausgerechnet Du (!), an so ne Braut geraten bist.

Ich glaube, Du hast extrem logisch, rational, nachvollziehbar und liebevoll reagiert.

Nur eben basierend auf einem Irrtum.

Der Irrtum liegt in der Prämisse, daß morgen alles anders sein kann. Erweitert gesprochen, in der Prämisse, daß von heute auf morgen Veränderung eintritt.

Pause.
Nachdenken.
von heute auf morgen, immer und immer wieder.



Jetzt kommen natürlich drölfzig schlaue Menschen, um die Ecke marschiert und werden sagen, aber wie kannst Du so etwas nur glauben, wenn jede Statistik... und ich habe auch schon mal ein Buch gelesen. Weitere drei sagen, ey ich habe Erfahrung mit Konsumenten, das hört nie auf, glaub mir einfach und noch mal fünf, die sagen, aber das muß dir gerade mit Deiner Geschichte, so etwas von klar gewesen sein, daß des ned passiert. Ach und fünf von den Leuten trägst Du eh auch noch fein brav in Dir.

Tja, ne und jetzt kommt so ein E-Claire daher, von Beruf Kaffeesatzleserin mit Abschluss schlaues Kind und sagt fein lächelnd Folgendes: Ich glaube keiner Statistik, die ich nicht selbst gefälscht habe, um mal Churchill zu zitieren oder einfach, alles schön und gut, aber das ist kein Glaubenssatz sondern beruht auf gemachter Erfahrung.

Jemand, der konsumiert und dann mal wieder nicht, verändert sich von einem Tag auf den anderen. Kind von so jemandem zu sein, bedeutet 100 oder 1000 Versprechungen zum Thema gehört zu haben. Jemand, der so groß geworden ist, erlebt Verheimlichung, die Kinder sehr wohl, die sind ja nicht doof, mitbekommen, aber nicht einordnen können und erlebt pausenlose Instabilität.
Daraus entstehen zwei Dinge: der absolute Glaube, daß Veränderung von einem auf den anderen Tag möglich ist (egal was Logik, Ratio oder Kenntnis der Wissenschaft dazu sagen) und das Verlangen nach Kontrolle. (Kinder glauben, müssen in bestimmten Entwicklungsstadien daran glauben, daß Umwelt kontrollierbar ist. Später werden daraus unendlich leistungsorientierte, extrem unsichere Erwachsene, die absolut den Boden unter den Füßen verlieren, wenn sie Kontrolle (Führung) abgeben sollen).

Dein ganzes Handeln basierte auf einer falschen Annahme. Nicht weil Du es nicht besser weißt, nicht weil Du doof bist, nicht weil Du glaubst, Du hättest es nicht besser verdient (ok, das ist auch ne Hausnummer und echt auch noch ma ein Brocken, aber nicht das Hauptproblem), sondern schlicht, weil Du erfahren, gelernt, gelebt hast, daß Veränderung von einem auf den anderen Tag möglich ist.

Die Prämisse war einfach falsch.

Jetzt kommen natürlich wieder unsere drölfzig Freunde, um die Ecke marschiert und sagen, also, selbst wenn wir unterstellen, das das stimmt, dann müßtest Du ja am besten wissen, daß die Veränderung nie eine langfristige war.

Dramaturgisch, Du bist der Profi, müssen wir an dieser Stelle jetzt das Bühnenbild teilen (hoffe da habt ihr ne ordentliche Assistenz, die werden heute eh nicht gut genug bezahlt). Wissen und Erfahrung sind zwei völlig verschiedene Dinge. Du kämpfst einerseits nicht gegen Logik, sondern gegen immer wieder gemachte Erfahrung. Ich habe vier Jahre gebraucht, um nicht mehr Samstag zum Postkasten zu gehen, weil es bei uns Samstag keine Post gibt, aber ich das halt 20+ Jahre so erfahren habe und natürlich wußte ich nach zwei Wochen, daß es hier keine Post am Samstag gibt.

Auf der anderen Seite des Bühnenbilds steht jetzt ein kleiner Junge, der sich so sehr wünscht, daß Mama einen Brief am Samstag schickt.
Erfahrung verknüpft mit emotionaler Sehnsucht?

Natürlich hast Du ihr geglaubt, weil es logisch, in Deiner Welt rational und in Deiner Welt liebevoll ist. Und weil Kinder ihren Eltern verzeihen, verzeihen müssen.

Mercurius, Du hast Dich nicht weiter quälen wollen im Gegenteil, Du hast basierend auf Deinen Erfahrungen und dem, wie Du Liebe verstehst, eine zutiefst liebevolle Entscheidung getroffen.

Dorothy ist also mittlerweile in der Smaragdenstadt (sorry, wenn ich da Formulierungen durcheinander werfe, ich beziehe mich eigentlich auf Wolkow, nicht der Regisseur sondern Schriftsteller) angekommen und hat halt die grüne Brille auf.
Hier ist die Herausforderung, die Stadt ist nicht grün. Deine gemachten Erfahrungen sind absolut valide.

Und an dieser Stelle auch eine Entschuldigung meinerseits, was ich vorhin als umauthentisch und ein wenig eindimensional, versteckt in schlauen Worten -daran halte ich fest- wahrnahm, war eigentlich Kindererfahrung und Kinderglaube, die sind halt wenig bis gar nicht differenzierend.

Die Herausforderung ist, umzulernen. Es gibt keine Veränderung von heute auf morgen, jedenfalls nicht bei Menschen. Ich sage nicht, daß es Menschen nicht gelingt, sich zu ändern oder umzulernen. Aber ich sage, es gelingt nicht einfach so, es gelingt nicht per Entschluss only und es ist alles aber kein einfach nur ein Schritt vor den anderen setzenden immer geradeaus Weg.

Fazit, wir geben heute mal nicht so ein modernes Stück, wo sich hinterher jeder seine Meinung bilden kann, sondern nen etwas Moralin-sauren Deutschen, so mit Zeigefinger und Kinder lernt was Epilog:

Deine Prämisse ist falsch.
Deine Kindersehnsucht extrem verständlich und berührend, aber ausgestattet mit den Insignien eines Erwachsenen womöglich alles nur nicht zielführend und eventuell auch gefahrbringend.

Was man damit macht?
Ach naja, Du hattest mich doch gefragt, was mich glücklich machen würde, ne

Also was mich für heute, in diesem Moment glücklich machen würde, ist neben meinem wunderbaren Glas Zweigelt, was ich mit Halsschmerzen nimmer trinken sollte, vor allem, daß Du vielleicht, unter Umständen, nur mal so am Rande, die Möglichkeit in Betracht ziehst, daß vermeintliche Seelenverwandte, einem nicht aus Heiratszwecken begegnen, sondern sie einem die Möglichkeit verschaffen, an sich selbst zu wachsen.
Praxistip: wenn Menschen sich nur schwer und mit Aufwand verändern und Du noch dazu in einem Umfeld tätig bist, was Ladies, wie Deine ehemalige eher anzieht, vielleicht doch mal nen Profi in Erwägung ziehen.

Ach und weil Du ja vorhin geklärt hattest, daß Du ein Rechthaber bist (meine Wortwahl nicht Deine), willste jetzt sicher ne Quellenangabe.
Woher ich all das vermeintlich weiß, noch mal, es muß nicht zutreffen, keiner in diesem Forum ist allein.

Hab einen schönen Abend.


In Theravadaklöstern gibt es das Ritual Sadhu Sadhu Sadhu gemeinschaftlich zu sprechen, wenn eine(r) weise gesprochen hat. Sadhu Sadhu Sadhu E-Claire. Bin vollgeheult. Treffsicher. Ja, Veränderung geht nicht von heute auf morgen, aber etwas in mir glaubt daran. Ich will nur kurz in ein Bild gehen: Ich bin wie häufig das letzte übrig gebliebene Kind im Kindergarten und warte darauf, dass sie mich abholt. Ich sitze auf einer kleinen, grün lackierten Bank und schaue unentwegt Richtung Gartentor. Mir ist so warm... Heute ist Freitag, da halten wir an einem kleinen Kiosk, in dem ich mir für eine Mark Bonbons aussuchen darf. Ich rieche schon das Lakritz der Seifenbonbons, die ich so gerne esse. Außerdem kostet eins nur zwei Pfennig, also kann ich die ganze Tüte voll machen lassen. Und da erscheint sie: Sie ist vom Sonnenlicht ganz eingehüllt. Ich renne ihr in die Arme und sie wirbelt mich herum. Sie riecht nach blumigen Parfüm und drückt mich an ihren flauschigen Kunstfellmantel. Ich hab sie so lieb... Bin nicht nur erleichtert, dass sie endlich da ist. Sondern - und das ist die ganze harte Wahrheit - dass sie noch existiert. Denn am Abend zuvor hat sie im Bett gelegen als ich mir die Zähne putzen wollte. Entblößt und abwesend. Neben ihr mein Stiefvater. Sie haben einfach nicht reagiert als ich sie ansprach. Ich war schon 5 und konnte mich selbst waschen und auch anziehen, aber wie sehr liebte ich es, wenn sie mir vorlas und mich zudeckte? Ich bin viel zu früh reif geworden. Alice Miller schreibt über solche wie mich im Buch Der Fluch des begabten Kindes. Aber da wollte ich eigentlich gar nicht hin. Ich möchte eigentlich nur bestätigen, was du sagst.

Mit Profis hatte ich reichlich zu tun. Insgesamt 7 Jahre Therapie und einen langen Klinikaufenthalt. Gute Kriseninterventionen, viel Flickschusterei. Ich würde gerne mal eine Analyse machen. Aber dazu müsste ich mich längerfristig an einem Ort aufhalten, womit ich so meine Probleme habe.

Jetzt brauch ich erstmal eine Pause. Dein Beitrag ist sehr intensiv. Fühlte sich an wie eine Operation mit entsprechender Wundversorgung. Sehr feinseelig. Danke, Atmen, Dir sehr!


p.S.: Einen Bruder hatte ich nie wirklich. Ich glaube, da ist etwas durcheinandergekommen. Es gab wohl aber Fehlgeburten. Leider.

17.04.2019 09:28 • x 2 #55


Chrisi
Was für ein intensiv, berührend zu lesender, mitfühlender und intelligenter Thread. Und sowas von ehrlich!
Von allen Seiten.
Unglaublich.
Vielen Dank.

17.04.2019 12:51 • x 6 #56


M
Zitat von DieSeherin:
bei einem menschen, der so tief in der sucht drinsteckt, kannst du nicht wirklich was machen. dass du es allerdings versucht hast und dabei deine emotionalen grenzen gewaltig überschritten hast, liegt ganz bestimmt daran, dass du die erlebnisse deiner kindheit einfach in dir drin stecken hast.

küchenpsychologisch: wenn du schon deine mutter nicht retten konntest und ihre ganze zuwendung als dank bekommen hast, dann versuchst du es halt mit dieser frau!

(und ich bin mit einer manisch-depressiven mutter aúfgewachsen, die sich auch des öfteren weg-gebeamt hat und habe einen bruder an die heroinsucht verloren... ich weiß also ein wenig, von was ich rede)



Ich habe wohl nur innerlich auf diesen Beitrag geantwortet. Krass. Mit dir würde ich mich gerne mal von Angesicht zu Angesicht unterhalten. Trotz dessen, was dir widerfahren ist, wirkst du stark. Bei dir. Beeindruckt mich sehr...

17.04.2019 13:17 • #57


DieSeherin
Zitat von Mercurius:
Trotz dessen, was dir widerfahren ist, wirkst du stark. Bei dir.


ich hatte das glück, dass da noch kleinere brüder waren, für die ich mich verantwortlich gefühlt habe... im grunde hat mich wohl mein helfersyndrom(chen) gerettet.

glaub mir, dass ich sehr, sehr gehadert habe und durchaus auch phasen, in denen ich nicht mehr wollte - aber ich habe eine bewusste entscheidung getroffen... nämlich, dass ich mich für das leben entscheide und wenn, dann richtig! mit zuversicht und nach vorne gewandtem blick.

17.04.2019 15:56 • x 2 #58


A
@Mercurius

Hallo Du Lieber.

Wie geht es Dir?
Wo stehst Du grad?
Was geht in Deinem Kopf vor?

Es interessiert mich wirklich.

Verbindliche, sonnige Grüße

07.05.2019 08:27 • #59


M
Heute fühle ich mich narkotisiert. Hatte allerdings auch wenig Schlaf in den vergangenen Nächten.

Ich werde weiterhin von starken Kräften bewegt. Sehnsucht treibt mich zu ihr. Die Unkenntnis darüber, was und wie sie es tut, treibt mich zu ihr. Eifersucht treibt mich zu ihr. Zorn sei eine kindliche Emotion, sagte mir ein guter Freund, deren Auslebung nichts Reinigendes hätte. Aber ich bin zornig. Sehr. Und zwar auf alle. Bald sind Europawahlen und ich streite mich meinen Mitmenschen über Parteiprogramme, übers Nichtwählen, über politische Meinungen, um in meine Wut zu kommen. Um sie auszuleben.

Ich will mich neu organisieren und halte das ein bis zwei Tage aus. Ich baue ein schlechtes Regal, weil ich kein Handwerker bin und improvisere eine Art Kleiderhalter, indem ich ein schwaches Tau von einer Wand zur anderen spanne. Darin liegt eine gewisse Befriedigung, da ich etwas geschafft habe. Dann lege ich mich hin und schaff es nicht mehr aufzustehen, weil ich keinen Grund finde. Ich kann ja nicht den ganzen Tag Regale bauen oder Taue spannen. Ich weiß nichts anzufangen mit mir. Lese ich, wie ich es immer tat, drifte ich ab. Ich ärger mich über Formulierungen und führe mir immer wieder vor Augen, dass diese Geschichte ja nur eine Geschichte ist. Ich erfreue mich nicht mehr daran.

Arbeitengehen ist eine Qual. Ich schließe mich im Büro ein, heule, balle die Fäuste. Ich sehe verlebt und angegriffen aus. In den Meetings glotzen mich die Kollegen an wie etwas Fremdes. Ich könnte aufstehen, den Tisch umwerfen und schreien. Ihr mit euren Familien, euren Kindern, euren Autos, euren Pferden, euren Höfen, euren Anzügen. Ihr nervt!

Ja, mich nerven gerade die Menschen. Und ich sehne mich nach ihnen. So ein Murks. Hier ist niemand in meiner Nähe, der sich auf mich einlässt. Meine Freunde sind 100e Km entfent bei ihren Frauen und Kindern, ihren Autos, Pferden und ach.

Bin immer noch fassungslos wegen allem. Wegen allem. ALLEM. Ich hatte Phasen, in denen ich mich wie ein Baum fühlte. Oder wie eine Feder im Wind. Gerade fühle ich mich einfach nur zerstoben. Da muss mal etwas Gutes passieren.

Deshalb hab ich mich in meiner guten Heimat beworben. Da wo alle sind. Freunde, Familie und all die anderen Welpen. Ich bin zynisch. Aber besser so als falsch. Bin eingeladen worden zu einem sogenannten Vorstellungsgespräch und das findet Montag statt. Der Job wäre zum nächst möglichen Zeitpunkt und ich bedränge meinen aktuellen Arbeitgeber, einen Auflösungsvertrag aufzusetzen. Fühl mich dabei irgendwie arrogant. Jedenfalls gab es Absprachen. Und ein realistisches Szenario wäre, dass ich demnächst 300 Km verziehe und ein gewisses Kapitel mit Wucht schließe. Das heißt eben auch, ihr endgültig Tschüss zu sagen und jetzt fließen wieder die Tränen.

Warum hab ich sie nur so lieb? Ist das mein Mama-Thema? Mein Ego? Meine Krankheit? Oder ist das sie? Wie sie lächelt, tanzt, singt? Sie als Wesen, umgeben von Schwaden aus... Ich fang schon wieder an. Gesülze.

Klar haben wir uns wieder gesehen. Und klar war es enttäuschend. Immer bleibe ich ungesättigt zurück. Alles natürliche Abläufe eines Bühnendramas. Normalerweise würde ich nun schreiben, dass das ja alles Sinn macht und ich irgendwie irgendwann herausfinde, warum diese Beziehung und warum auch die Trennung notwendig gewesen wären. Aber gerade funktioniert das einfach nicht. Ich fühle etwas Essenzielles verloren zu haben. Greif ich es, entfleucht es scheu.

Ja, ich hab hier Eindruck geschunden, aber das war ja intendiert. Und jetzt gefall ich mir in meiner Rolle als Opfer. Aber das ist Mist. Ich bin einfach ein Kerl mit dem berühmten Loch in der Brust. Und mir fehlt der Füllstoff. Hab ihn hier womöglich gesucht. Und dann habt ihr mir den Spiegel vorgehalten. Dafür bin ich vollkommen dankbar.

Sonnig ist es hier nicht. Aber ich grüße dich wonnig zurück. So ist das Leben, sagte der Clow und malte sich mit den Tränen seiner Augen ein strahlendes Lächeln ins Gesicht.

07.05.2019 13:11 • x 5 #60


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