Die Väter. Buchtipp im Internet

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Leseprobe aus
Karin Jäckel, Furcht vor dem Leben - Wenn Jugendliche den Tod als einzigen Ausweg sehen

Karin Jäckel erzählt in ihrem neuesten Buch die Geschichte von elf Kindern und läßt sie dabei viel selbst zu Worte kommen. Ein Auszug aus der Geschichte von Heiko.

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Lieber Papi !

Die nachfolgenden Textstellen sind von mir skribierte Auszüge aus Tonträgern, die Heiko für seinen Vater aufnahm. Die Zitate stammen aus verschiedenen Altersstufen. Da Heiko auf den einzelnen Bändern keine Datumsangaben vermerkte, kann er selbst die eine oder andere Aufnahme nicht mehr genau dem exakten Alter zuordnen. Sicher ist die Reihenfolge der Bänder. Wir haben daher darauf verzichtet, Altersangaben zu machen. Das erste Band wurde im Alter von acht Jahren bespielt.

Lieber Papi

Manchmal sehe ich dich. Du kommst auf mich zu und machst die Arme auf und ich renne und wir umarmen uns. Wenn ich die Augen aufmache, bist du weg. Ich möchte die Augen nie aufmachen.

*

Wann kommst du? Mutti sagt, daß wir dir schei. sind. Sie sagt, du kommst nie mehr. Ich soll dich vergessen. Sie sagt, daß sie froh ist, daß wir dich los sind. Weil ich sowie schon fast so bekloppt bin wie du und bestimmt noch bekloppter werde, wenn du dich dauernd in mich einmischst. Sie ist aber selber bekloppt. Bitte, komm doch endlich!

*

Ich habe ein Foto von dir. Da staunst du, was? Ich habe es aus dem Foto ausgeschnitten, wo wir am Walchensee in Bayern waren. Weißt du noch? Wo du mit Mutti im Tretboot sitzt. Das, was ich selber gemacht habe. Dein Kopf ist da genau schön klein. Der paßt genau in mein SOS-Medaillon. Das du mir mal geschenkt hast. Das man so aufschrauben kann und innen so ein Zettel ist, auf dem meine Adresse und Blutgruppe steht und alles. Wo nichts naß wird drinnen und nichts verbrennen kann. Das so silbrig aussieht. Da bist du jetzt drinnen. Das weiß keiner. Da kann ich dich immer anschauen, wenn ich will. Mutti habe ich einfach weggeschmissen. Die habe ich ja noch.

*

Heute war ich einkaufen. Ich muß jetzt immer zu »Feinkost Mayer-Mall«, obwohl es dort doof ist, weil es stinkt. Aber Mutti will es. Heute kam mir ein Junge entgegen, den ich nicht kenne. Wie er mich sieht, will er mich gleich verkloppen. Leider tat er es auch.

So mit Treten, du weißt schon wo, und Dusche mit Elchbiß und alles. Obwohl ich ihm gar nichts getan habe. Ich konnte da gar nichts machen. Der war viel stärker Und der hatte Riesenschuhe. Wie ich ins Feinkost kam, haben die gedacht, ich hätte einen Unfall gehabt. Naja, hatte ich ja, so ungefähr.

Wie ich dann zurück wollte, war der Typ wieder da. Ich hab' total die Panik bekommen. »Fresse oder Kohle!« hat er gesagt. Da hab' ich ihm alles gegeben. Freiwillig. Mutti hat die Krise gekriegt, weil sie bei der Kripo ist und ihr Sohn sich auf der Straße abziehen läßt. Sie hat gesagt, daß ich meinem Vater alle Ehre mache und genau so ein Totalversager bin wie du. Und ihr Freund hat gesagt, daß ich am Samstag in der Autowerkstatt arbeiten muß, weil er das Geld zurück will PAAAPAAAAA!

*

In der Schule hier ist es total doof. Die Lehrer, die anderen in der Klasse, alles. Ich will viel lieber bei dir sein als hier.

Unser Mathelehrer hat gesagt, daß Mutti ihr Freund bei uns Klassenelternsprecher geworden ist. Er hat gesagt, daß er das schön für mich findet, weil es nicht selbstverständlich ist, daß man so einen netten Stiefvater bekommt, der sich so um einen kümmert. Ich habe ihm gesagt, daß ich keinen Stiefvater brauche, weil ich einen richtigen Vater habe. Da hat er gesagt, ich soll mich benehmen, weil es sich nicht gehört, daß man einen Lehrer anschreit. So ein Ar.!

*

Kannst du mir sagen, wie ich das aushalten soll, immer dieser Typ? Und Mutti - wie die sich abknutschen und abfummeln und alles? Und wenn ich mal was sage, geht's gleich los. Ich hasse das. Ich hasse das! Du hast versprochen, du kommst. Du hast gesagt, versprochen ist versprochen, das muß man halten. Und was ist jetzt? Du rufst nicht mal an. Du könntest doch heimlich anrufen. Du könntest Oma sagen, daß sie mir sagen soll, du rufst an, dann und dann, und dann bin ich gleich dran. Aber Oma ruft auch nicht an. Mutti sagt, sie ruft nicht an, weil sie blöd ist, sie wäre ja schließlich deine Mutter.

Heute hat er mich gehauen. Aufs Ohr. Tut er immer. Und Mutti macht nichts. Sie sagt, das darf er. Aber das darf er nicht. Er ist nicht mein Vater! Ich will hier weg. Ach, schei., Papa!

*

Ich glaube jetzt fast auch, daß du nicht mehr kommst. Verdammt, warum? Was habe ich dir getan? Was für ein Recht hast du, mich sitzen zu lassen? Mutti hat immer gesagt, du bist ein Schwein. Es ist so lange her. Was soll ich jetzt glauben? Mensch, Papa, ich habe dich so geliebt.

*

Ich wollte nichts mehr für dich machen. Jetzt mach ich es halt doch. Mach ich es eben für mich. lst ja sowieso egal, du kriegst es ja doch nie. Oder wenn, bin ich sowieso weg. Ich seil mich ab. Für immer. Ich hau einfach in den Sack und aus der Traum. Wenn du immer der Ar. bist, immer der Depp, immer der ldi, immer der mit dem Vater und alle sind happy, bloß wenn du kommst, ticken sie aus. Ich hab's bis hier, Papa. Ich will das nicht mehr Und du bist auch fein raus aus allem. Klasse, Papa, ehrlich Spitze. Wie du das mit mir gedreht hast, daß ich alles glaube, was du da von dir gibst, von wegen, bald holst du mich und alles. Du hast es nicht mal probiert. Und ich hab dir so vertraut.

Warum bin ich überhaupt geboren, eh? Was sollte das mit diesem schei.? Warum habt ihr mich überhaupt gekriegt, wenn mich jetzt keiner haben will? Weil der *beep" so gut war? Warum habt ihr keinen Gummi genommen? Ihr hattet den Spaß, und ich hab jetzt den Ärger. Aber ich schei. euch was drauf, ich mach nicht mehr mit. Ich seh da keinen Sinn mehr drin.

Papa, was kommt danach? Der Himmel und die lieben Englein und Halleluja auf Wolke Sieben? Oder der Satan und der heiße Ofen, oder was? Oder saust man für immer und drei Tage als Staubpartikel durchs All? Oder stimmt das mit der Wiedergeburt? Stell ich mir gut vor. Ist aber eher unwahrscheinlich, oder?

Ich stell mir das mal mathematisch vor. Wenn jeder Neugeborene schon mal gelebt hätte, müßte Gott schon dieselbe Menge Menschen im Paradies erschaffen haben, die es heute gibt. Oder woher sollte ein Neugeborener, der noch nie zuvor gelebt hat, eine Seele bekommen? Angeblich ist sie doch der Atem Gottes, der uns bei der Schöpfung eingehaucht wurde.

Heißt das, daß jeder Zeugungsakt ein neuer Schöpfungsakt ist, in dem Gott mitmischt? - Eh, starke Vorstellung. Oder wird die Seele automatisch wie die Anzahl der Chromosomen aus einem Stückchen Mutterseele und einem Stückchen Vaterseele gebildet und wächst dann zu einer neuen Seele zusammen? So als ewiger Schöpfungsauftrag, der wie Dauerhypnose wirkt und sich niemals ändert?

Wenn alle heutigen Menschen tatsächlich Wiedergeborene aus unterschiedlichen Wissensstufen wären, würde die Bibel lügen. Oder nicht? Soll die Sache mit Adam und Eva nur stellvertretend für alle anderen stehen, die Gott damals auch geschaffen hatte?

Und was, wenn wir überhaupt keine Seele hätten? Alles Gesülze, alles nur Geschwätz, weil ein paar besonders Clevere ein Märchen von einem Gott erfunden haben, um an die Macht zu kommen? Ist dann nichts mehr, bloß Schwarz? Es ist zum Kotzen. Ich hab' Angst.

*

Ich stell mir vor, wie das ist. Wenn ich es mache, wird alles ganz steif und kalt und dunkel. Vielleicht merke ich nichts mehr. Vielleicht schwebe ich als Geist über mir herum und sehe alles. Wenn sie mich in den Sarg legen, kommt der Deubel mit der Gabel und kascht mich? Ha, wird nix draus, Alter. Ich lege den Turbo ein und dann geht's ab durchs AIl. Da wird sich schon ein schwarzes Loch finden lassen, wo ich mich verstecken kann. Oder wenn nicht, kann ja schon sein, daß es gut wird. Kann sein, daß da tatsächlich tausend Leute einen Bierstand aufgemacht haben und die tollsten Mädels einen bedienen. Na, egal.

In der Kiste ist es jedenfalls eng und lausig. Ich hab' beim Leichenbestatter reingeschaut. Mal Särge probiert. Nee, Quatsch, nicht, bloß geguckt. Erst mal ziemlich hart das Ding. Mit Kissen aus Papier. Na, ich weiß ja nicht. Und dann der Deckel drauf. Ziemlich niedrig. Kriegst du ja gar keine Luft mehr, erstickst du ja. Ha, ha, Witz, komm raus! Deckel zu Affe dod. Tack, Tack, Tack, ein paar Nägel. Fertig. Siehst nix mehr, hörst nix mehr, spürst nix, hast deine Ruhe. Und dann? Wenn dann die Käfer kommen und die Würmer und sich durchwühlen zu dir und Mampf! - Oh, Mann, ist das ekliq! Ich glaub, ich kann nicht. Kann man bestimmen, daß man verbrannt werden will, wenn man minderjährig ist?

*

Und ich tu's doch! Schon allein, damit der Sack eins drauf kriegt. Endlich mal! Einer muß dem doch mal zeigen, was geht. Der kann doch nicht alles mit einem machen und nichts, rein absolut nichts passiert.



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(...)

Nach dem Streit zog der Vater aus der ehelichen Wohnung aus und zurück zu seinen Eltern. Er verbrachte anfangs täglich so viel Zeit wie möglich mit Heiko und versuchte vergeblich, sich wieder mit seiner Frau zu versöhnen. Meine Mutter wollte ihn nicht mehr sehen, weiß Heiko. Sie verbot ihm, bei uns anzurufen. Und als er ihr mal Blumen schickte, warf sie die einfach aus dem Fenster. Mein Vater kam dann nicht mehr. Damals begriff ich nicht, was los war. Aber inzwischen weiß ich, daß meine Mutter ihn erpreßt hat. Sie hatte gesagt, daß sie dafür sorgt, daß er mich verliert, wenn er weiterhin käme. Mein Vater glaubte damals, daß so eine Aussage vor Gericht genügen würde, um meiner Mutter das Sorgerecht zu entziehen. Na ja, Irrtum.

(...)

Meine Mutter verhinderte alles, weiß Heiko heute. Sie hatte meinem Vater gesagt, daß ich krank wäre oder sie mit mir verreisen würde, daß ich ihn nicht sehen wollte, daß ich Angst vor ihm hätte, daß ich lieber mit ihrem neuen Freund etwas unternehmen will und noch tausend andere Ausreden. Jetzt weiß ich, daß er immer wieder vor verschlossener Haustür stand, wenn unser Wochenende gewesen wäre, und meine Mutter die Post einfach wegwarf, die er mir geschickt hatte. Da hat meine Mutter mir bloß erklärt, daß mein Vater nichts mehr von mir wissen wollte, weil er sie nicht mehr liebt und jetzt eine andere hätte. Ich hab´ ihr vertraut und geglaubt, klar doch. Wie denn auch nicht? Sie ist meine Mutter. Aber es stimmte alles nicht.

(...)

»Trägst du deiner Mutter noch nach, daß sie dir deinen Vater quasi weggenommen hat?« fragte ich.

»Ja, genau!« Heiko wurde sehr ernst. »Ich lebe zwar noch bei ihr, aber nicht mehr lange. Ich will weg, sobald ich eine Lehrstelle bei meinem Vater in der Nähe gefunden habe. So was spricht man zwar nicht aus, aber ich kann ihr diese ganze Lügerei und alles, ich kann ihr das nicht verzeihen. Ich will nichts mehr von ihr wissen. Ich verabscheue sie richtiggehend für das alles. Sie hat mir meine Kindheit dadurch total durchtrieben und mich unheimlich unglücklich gemacht.

Ich hab' mich als Kind so total ausgeliefert gefühlt, absolut ohne Chance. Ich hatte deswegen echt keine Lust mehr zu leben. Das war damals überhaupt nicht bloß so dahergeredet. Ich hatte solche Sehnsucht nach meinem Vater. Und ich begriff einfach nicht, wieso er mich nicht mehr liebte. Ich hatte ihm doch nichts getan. Ich hätte mich fast umgebracht deswegen. Und alles wegen nichts, bloß damit sie ihren Willen hat. Das ist doch keine Mutter, die so was macht.«


Anmerkung: Väter! Bleibt dran an euren Kindern - ihr wißt oft gar nicht, wie wichtig ihr seid.

19.07.2006 23:38 • #1




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