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Rainer Maria Rilke aus dem Jahr 1904 und immer aktuell

R
...Sie haben viele und große Traurigkeiten gehabt, die vorübergingen. Und Sie sagen, daß auch dieses Vorübergehen schwer und verstimmend für Sie war. Aber, bit...te, überlegen Sie, ob diese großen Traurigkeiten nicht vielmehr mitten durch Sie durchgegangen sind? Ob nicht vieles in Ihnen sich verwandelt hat, ob Sie nicht irgendwo, an irgendeiner Stelle Ihres Wesens sich verändert haben, während Sie traurig waren?

Gefährlich und schlecht sind nur jene Traurigkeiten, die man unter die Leute trägt, um sie zu übertönen; wie Krankheiten, die oberflächlich und töricht behandelt werden, treten sie nur zurück und brechen nach einer kleinen Pause um so furchtbarer aus; und sammeln sich an im Innern und sind Leben, sind ungelebtes, verschmähtes, verlorenes Leben, an dem man sterben kann. Wäre es uns möglich, weiter zu sehen, als unser Wissen reicht, und noch ein wenig über die Vorwerke unseres Ahnens hinaus, vielleicht würden wir dann unsere Traurigkeiten mit größerem Vertrauen ertragen als unsere Freuden. Denn sie sind die Augenblicke, da etwas Neues in uns eingetreten ist, etwas Unbekanntes; unsere Gefühle verstummen in scheuer Befangenheit, alles in uns tritt zurück, es entsteht eine Stille, und das Neue, das niemand kennt, steht mitten darin und schweigt.

Ich glaube, daß fast alle unsere Traurigkeiten Momente der Spannung sind, die wir als Lähmung empfinden, weil wir unsere befremdeten Gefühle nicht mehr leben hören. Weil wir mit dem Fremden, das bei uns eingetreten ist, allein sind, weil uns alles Vertraute und Gewohnte für einen Augenblick fortgenommen ist; weil wir mitten in einem Übergang stehen, wo wir nicht stehen bleiben können. Darum geht die Traurigkeit auch vorüber: das Neue in uns, das Hinzugekommene, ist in unser Herz eingetreten, ist in seine innerste Kammer gegangen und ist auch dort nicht mehr, - ist schon im Blut. Und wir erfahren nicht, was es war.

Man könnte uns leicht glauben machen, es sei nichts geschehen, und doch haben wir uns verwandelt, wie ein Haus sich verwandelt, in welches ein Gast eingetreten ist. Wir können nicht sagen, wer gekommen ist, wir werden es vielleicht nie wissen, aber es sprechen viele Anzeichen dafür, daß die Zukunft in solcher Weise in uns eintritt, um sich in uns zu verwandeln, lange bevor sie geschieht. Und darum ist es so wichtig, einsam und aufmerksam zu sein, wenn man traurig ist: weil der scheinbar ereignislose und starre Augenblick, da unsere Zukunft uns betritt, dem Leben so viel näher steht als jener andere laute und zufällige Zeitpunkt, da sie uns, wie von außen her, geschieht...

Rainer Maria Rilke, Briefe (12.8.1904)

15.07.2013 20:09 • x 9 #1


Mimose
Toll!
Danke!
Ich liebe sowas!

Überhaupt denk ich manchmal, ich gehöre nicht in diese Zeit!
Oder um es mit Rilke zu sagen: Diese Zeit gehört nicht in mich!

LG M.

15.07.2013 20:24 • x 1 #2


A


Rainer Maria Rilke aus dem Jahr 1904 und immer aktuell

x 3


J
Danke Ralitsa!

Diesen Text werde ich oft lesen!

15.07.2013 20:42 • #3


L
Ja!

15.07.2013 21:41 • #4


A
Hallo,

Und darum ist es so wichtig, einsam und aufmerksam zu sein, wenn man traurig ist: weil der scheinbar ereignislose und starre Augenblick, da unsere Zukunft uns betritt, dem Leben so viel näher steht als jener andere laute und zufällige Zeitpunkt, da sie uns, wie von außen her, geschieht...

Rilke`s Worte beschreiben genau das, was ich gefühlt habe, jedoch nicht benennen konnte. ...da unsere Zukunft uns betritt...

DANKE! für diesen wunderbaren Beitrag. Vielleicht sollten wir hier eine kleine Literaturecke eröffnen:)

Liebe Grüße

aus die maus

15.07.2013 22:44 • #5


N
Schon ganz alt, aber immer noch -wieder- aktuell

Das Glück ist eine leichte Dirne
Und weilt nicht gern am selben Ort;
Sie streicht das Haar dir von der Stirne,
Und küßt dich rasch und flattert fort.

Frau Unglück hat im Gegenteile
Dich liebefest ans Herz gedrückt;
Sie sagt, sie habe keine Eile,
Setzt sich zu dir ans Bett und strickt.

(Heinrich Heine)

Und die Liebe?

Das zum Abschluß, wo ja die ganze Woche in allen Medien über das Glück philosophiert worden ist

23.11.2013 02:40 • x 1 #6


A
Rainer Maria Rilke ..................... ......... Rom, am 29. April 1904
An Friedrich Westhoff

Mein lieber Friedrich,
wir haben durch Mutter in dieser Zeit öfters von dir gehört, und, ohne Genaueres von dir zu wissen, fühlen wir doch, dass du eine schwere Zeit hast. Mutter wird dir nicht helfen können, denn im Grunde kann keiner im Leben dem anderen helfen; das erfährt man immer wieder in jedem Konflikt und jeder Verwirrung: dass man allein ist.
Das ist nicht so schlimm, wie es auf den ersten Blick scheinen mag; es ist auch wieder das Beste im Leben, dass jeder alles in sich selbst hat: sein Schicksal, seine Zukunft, seine ganze Weite und Welt. Nun gibt es freilich Momente, wo es schwer ist, in sich zu sein und innerhalb des eigenen Ichs auszuhalten; es geschieht, dass man gerade in den Augenblicken, da man fester und – fast müsste man sagen – eigensinniger denn je an sich festhalten sollte, sich an etwas Äußeres anschließt, während wichtiger Ereignisse den eigenen Mittelpunkt aus sich heraus in Fremdes, in einen anderen Menschen verlegt. Das ist gegen die allereinfachsten Gesetze des Gleichgewichts, und es kann nur Schweres dabei herauskommen.
Clara und ich, lieber Friedrich, wir haben uns gerade darin gefunden und verstanden, dass alle Gemeinsamkeit nur im Erstarken zweier benachbarter Einsamkeiten bestehen kann, dass aber alles, was man Hingabe zu nennen pflegt, seinem Wesen nach der Gemeinsamkeit schädlich ist: Denn wenn ein Mensch sich verlässt, so ist er nichts mehr, und wenn zwei Menschen beide sich selbst aufgeben, um zueinander zu treten, so ist kein Boden mehr unter ihnen und ihr Beisammensein ist ein fortwährendes Fallen. – Wir haben, mein lieber Friedrich, nicht ohne große Schmerzen, solches erfahren, haben erfahren, was jeder, der ein eigenes Leben will, so oder so zu wissen bekommt.
Ich werde einmal, wenn ich reifer und älter bin, vielleicht dazu kommen, ein Buch zu schreiben, ein Buch für junge Menschen; nicht etwa, weil ich glaube, etwas besser gekonnt zu haben als andere. Im Gegenteil, weil mir alles so viel schwerer geworden ist als anderen jungen Menschen von Kindheit an während meiner ganzen Jugend.
Da habe ich immer und immer wieder erfahren, dass es kaum etwas Schwereres gibt, als sich lieb haben. Dass das Arbeit ist, Tagelohn, Friedrich, Tagelohn; weiß Gott, es gibt kein anderes Wort dafür. Sieh, und nun kommt noch dazu, dass die jungen Menschen auf so schweres Lieben nicht vorbereitet werden; denn die Konvention hat diese komplizierteste und äußerste Beziehung zu etwas Leichtem und Leichtsinnigem zu machen versucht, ihr den Schein gegeben, als könnten sie alle. Dem ist nicht so. Liebe ist etwas Schweres, und sie ist schwerer denn anderes, weil bei anderen Konflikten die Natur selbst den Menschern anhält, sich zu sammeln, sich ganz fest mit aller Kraft zusammenzufassen, während in der Steigerung der Liebe der Anreiz liegt, sich ganz fortzugeben. Aber denke doch nur, kann das etwas Schönes sein, sich fortzugeben nicht als Ganzes und Geordnetes, sondern so dem Zufall nach, Stück für Stück, wie es sich trifft? Kann solche Fortgabe, die einem Fortwerfen und Zerreißen so ähnlich sieht, etwas Gutes, kann sie Glück, Freude, Fortschritt sein? Nein, sie kann es nicht … Wenn du jemandem Blumen schenkst, so ordnest du sie vorher, nicht wahr? Aber junge Menschen, die sich lieb haben werfen sich einander hin in der Ungeduld und Hast ihrer Leidenschaft, und sie merken gar nicht, welcher Mangel an gegenseitiger Schätzung in dieser unaufgeräumten Hingabe liegt, merken es erst mit Staunen und Unwillen an dem Zerwürfnis, das aus aller dieser Unordnung zwischen ihnen entsteht. Und ist erst Uneinheit unter ihnen, dann wächst die Wirrnis mit jedem Tage; keiner von den beiden hat mehr etwas Unzerschlagenes, Reines und Unverdorbenes um sich, und mitten in der Trostlosigkeit eines Abbruchs suchen sie den Schein ihres Glückes [denn um des Glückes willen sollte all das doch sein] festzuhalten. Ach, sie vermögen sich kaum mehr zu entsinnen, was sie mit Glück meinten. In seiner Unsicherheit wird jeder immer ungerechter gegen den anderen; die einander wohltun wollten, berühren einer den anderen nun auf herrische und unduldsame Art, und im Bestreben, aus dem unhaltbaren und unerträglichen Zustand ihrer Wirrnis irgendwie herauszukommen, begehen sie den größten Fehler, der an menschlichen Beziehungen geschehen kann: sie werden ungeduldig. Sie drängen sich zu einem Abschluss, zu einer, wie sie glauben, endgültigen Entscheidung zu kommen, sie versuchen ihr Verhältnis, dessen überraschende Veränderungen sie erschreckt haben, ein für allemal festzustellen, damit es von nun ab „ewig“ [wie sie sagen] dasselbe bleibe. Das ist nur der letzte Irrtum in dieser langen Kette von aneinander festhaltenden Irrungen. Totes nicht einmal lässt sich endgültig festhalten [denn es zerfällt und verändert sich in seiner Art] wie viel weniger lässt sich Lebendes und Lebendiges ein für alle Mal abschließend behandeln. Leben ist ja gerade Sichverwandeln, und menschliche Beziehungen, die ein Lebens.trakt sind, sind das Veränderlichste von allem, steigen und fallen von Minute zu Minute, und Liebende sind diejenigen, in deren Beziehung und Berührung kein Augenblick dem anderen gleicht. Menschen, zwischen denen nie etwas Gewohntes, etwas schon einmal Dagewesenes vor sich geht, sondern lauter Neues, Unerwartetes, Unerhörtes. Es gibt solche Verhältnisse, die ein sehr großes, fast unerträgliches Glück sein müssen, aber sie können nur zwischen sehr reichen Menschen eintreten und zwischen solchen, die jeder für sich, reich, geordnet und versammelt sind, nur zwei weite, tiefe, eigene Welten können sie verbinden. – Junge Menschen – das liegt auf der Hand – können ein solches Verhältnis nicht gewinnen, aber sie können, wenn sie ihr Leben recht begreifen, langsam zu solchem Glück anwachsen und sich vorbereiten dafür. Sie müssen, wenn sie lieben, nicht vergessen, dass sie Anfänger sind, Stümper des Lebens, Lehrlinge in der Liebe, – müssen Liebe lernen, und dazu gehört [wie zu jedem Lernen] Ruhe, Geduld und Sammlung!
Liebe ernst nehmen und leiden und wie eine Arbeit lernen, das ist es, Friedrich, was jungen Menschen nottut. – Die Leute haben, wie so vieles andere, auch die Stellung der Liebe im Leben missverstanden, sie haben sie zu Spiel und Vergnügen gemacht, weil sie meinten, dass Spiel und Vergnügen seliger denn Arbeit sei; es gibt aber nichts Glücklicheres als die Arbeit, und Liebe, gerade weil sie das äußerste Glück ist, kann nichts anderes als Arbeit sein. – Wer also liebt, der muss versuchen, sich zu benehmen, als ob er eine große Arbeit hätte: Er muss viel allein sein und in sich gehen und sich zusammenfassen und sich festhalten; er muss arbeiten; er muss etwas werden!
Denn, Friedrich, glaube mir, je mehr man ist, je reicher ist alles, was man erlebt. Und wer in seinem Leben eine tiefe Liebe haben will, der muss sparen und sammeln dafür und Honig zusammentragen.
Man muss nie verzweifeln, wenn einem etwas verloren geht,
ein Mensch oder eine Freude oder ein Glück,
es kommt alles noch herrlicher wieder.
Was abfallen muss, fällt ab; was zu uns gehört, bleibt uns,
denn es geht alles nach Gesetzen vor sich,
die größer als unsere Einsicht sind und mit denen wir nur scheinbar im Widerspruch stehen.
Man muss in sich selber leben und an das ganze Leben denken,
an alle seine Millionen Möglichkeiten, Weiten und Zukünfte,
denen gegenüber es nichts Vergangenes und Verlorenes gibt.

Wir denken so viel an dich, lieber Friedrich; unsere Überzeugung ist die: Dass du in der Wirrnis der Ereignisse längst, aus dir heraus, den eigenen einsamen Ausweg gefunden hättest, der allein helfen kann, wenn nicht die ganze Last des Militärjahres noch auf dir läge … Ich erinnere mich, dass nach meiner eingesperrten Militärschulzeit mein Freiheitsdrang und mein entstelltes Selbstgefühl [das sich erst allmählich von Bügen und Beulen, die man ihm beigebracht hatte, erholen musste] mich zu Verirrungen und Wünschen, die gar nicht zu meinem Leben gehören, treiben wollte, und es war mein Glück, dass meine Arbeit da war: In ihr fand ich mich und finde mich täglich in ihr und suche mich nirgends anders mehr. So tun wir beide; so ist Claras und mein Leben. Und du wirst auch dazu kommen, ganz gewiss. Sei guten Mutes, alles ist vor dir, und die Zeit, die mit Schwerem hingeht, ist nie verloren. Wir grüßen dich, lieber Friedrich, von Herzen:
Rainer und Clara

23.11.2013 03:11 • x 1 #7


E
Mein Lieblingsgedicht von Rilke

Wie soll ich meine Seele halten, daß
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiterschwingt,wenn deineTiefen schwingen.
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Spieler hat uns in der Hand?

O süßes Lied.

Auch wenn es vielleicht nicht ganz zum Thema past
Guten Morgen

23.11.2013 09:10 • x 3 #8


Charla
Was von uns verlangt wird, ist,
dass wir das Schwere lieben und
mit dem Schweren umgehen lernen.
Im Schweren sind die freundlichen Kräfte,
die Hände, die an uns arbeiten.
Mitten im Schweren
sollen wir unsere Freuden haben,
unser Glück, unsere Träume;
da, vor der Tiefe dieses Hintergrunds, heben sie sich ab,
da sehen wir erst, wie schön sie sind.
Und nur im Dunkel der Schwere
hat unser kostbares Lächeln einen Sinn;
da leuchtet es erst mit seinem tiefen, träumenden Licht,
und in der Helligkeit,
die es für einen Augenblick verbreitet,
sehen wir die Wunder und Schätze,
von denen wir umgeben sind.

Rainer Maria Rilke, Briefe

26.12.2022 20:59 • #9


Soloperme
Rilkes Briefe an die Prinzessin

... Nur manchmal, während wir so schmerzhaft reifen,
daß wir an diesem beinah sterben, dann
formt sich aus allem, was wir nicht begreifen,
ein Angesicht und sieht uns strahlend an.

26.12.2022 21:43 • #10


A


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