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Mut zum Mittelmaß

E
Ich bin eine alte Frau! Aus Langeweile verbringe ich viel Zeit im Internet und lese hier und da in den Foren zu verschiedenen Themen mit. Dieses hier mag ich besonders. Oftmals leide ich mit den Ratsuchenden, ärgere mich über unempathische Kommentare oder lache herzlich über humorvolle, lebensbejahende Beiträge.

Ich selbst habe in Liebesdingen viel erlebt. Ich habe gelebt und geliebt so intensiv, wie ich nur konnte. Ich habe eine lange glückliche Ehe mit meinem lieben Mann. Aber ich muss zugeben, auch wir hatten Krisen. Einmal waren wir sogar getrennt, hielten das aber nicht lange aus und fanden wieder zusammen. Wir lieben uns immernoch aber wir haben auch gestritten, uns gegenseitig belogen und ja sogar betrogen. Alles das kam vor. Manchmal dachte ich, dachten wir, eine Scheidung wäre unausweichlich. Manchmal langweilten wir uns auf so unerträgliche Weise miteinander, daß wir den jeweils anderen am liebsten aus der Tür gehen sahen.

Eine Ehe ist kein Kinderspiel. Und doch erinnerte sie mich oft an das Seilchenspringen früherer Tage. Mal schwang das Seil in großen Kreisen schnell um uns und wir hüpften voller Freude wie die Flummis. Mal ging uns die Puste aus und wir keuchten und schimpften vor Anstrengung. Und manchmal blieben wir einfach stehen und ertrugen stoisch die Schläge des Seiles an unseren Körpern.

Irgendwann aber fanden wir zurück in einen gleichmäßigen, ruhigen Rhythmus so daß uns das Spiel heute kaum noch Mühe bereitet. Gelassen steigen wir gemeinsam über jede Hürde und wenn einer schwächelt, trägt ihn der andere.

Körperliche Intimität gibt es aus gesundheitlichen Gründen nur noch sehr eingeschränkt. Zärtlichkeit dafür umso mehr. Vertrauen gibt es, tiefe Verbundenheit und Freundschaft. Wann der Vorhang endgültig fällt, wissen wir nicht. Aber wir werden auch über den Tod hinaus einander verbunden und treu sein. So fraglich uns das in unserer Lebensmitte erschien, so selbstverständlich ist es heute. Wir erleben keine Höhenflüge mehr. Die Schmetterlinge sind schon vor Jahrzehnten sicher gelandet. Und wisst ihr was? Das ist gut und richtig so!

Eine Ehe ist kein rosaroter Luftballon. Sie ist Arbeit, Verantwortung und oft auch Frustration und Leid. Das Mittelmaß, das wir heute haben, scheint jungen Menschen unerträglich. Für uns ist es der Himmel auf Erden, jeden Morgen gemeinsam aufzuwachen und einzuschlafen. Für uns ist es die wahre Liebe.

Euch allen eine gesegnete Weihnachtszeit! Bleibt gesund!

17.12.2020 15:21 • x 68 #1


Wollie
Ganz lieben Dank für deinen wahren und weisen Text....dass sollten sich alle die sich trauen vor dem Altar vorher mal gut durchlesen....kann ich voll und ganz unterschreiben......und dieses Mittelmaß ist genau dass was viele eben nicht wollen...es soll ständig nur emotionale Höhenflüge geben, Nächte voller Leidenschaft, ein Mann der gleichzeitig stark und ein bisschen Macho ist, daneben aber ein hingebungsvoller Daddy der am besten auch noch kochen, putzen und einkaufen kann.....und empathisch und gut aussehen muss er auch noch sein......alles nur kein Mittelmaß.......umgekehrt natürlich auch........danke nochmal...du sprichst mir aus der Seele

17.12.2020 15:35 • x 1 #2


A


Mut zum Mittelmaß

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S
Hallo Etienna,

danke für Dein Posting!

Ich bin ebenfalls alt und kann Deine Worte sehr gut nachvollziehen. Du hast Eure über Jahrzehnte gereifte Ehe wundervoll beschrieben.

Aber ist es nicht auch eine Frage des Alters, wie man etwas empfindet? In jungen Jahren wäre jede Form von Langweilig für mich unerträglich gewesen. Bis nachts um 3.00 Uhr Rotwein auf dem Fussboden, bei Kerzenlicht und Diskussionen, danach auf nach Holland und Frühstück am Meer, ...das war mehr was für mich.

Heute wäre ich froh, wenn ich mit meinem Mann (verstorben) noch so ein Leben hätte, wie Du es beschreibst - ganz entspannt im Augenblick, die kleinen, fast unscheinbaren Dinge des Alltags schätzen, wissen, dass und wie sehr man sich aufeinander verlassen, sich vertrauen kann!

Genießt Eure Zweisamkeit auch weiterhin und bleibt ebenfalls gesund!

17.12.2020 15:45 • x 2 #3


Catalina
Liebe Etienna,

danke für diesen schönen und Mut machenden Betrag und dafür, dass du hier deine Geschichte erzählst.

Ich stimme dir zu, eine lange Beziehung oder Ehe ist nicht immer einfach und es bedeutet Verantwortung und Arbeit, sie aufrecht und für beide lebenswert zu erhalten. Aber wenn man sich liebt und gut zueinander passt, ist es das absolut wert.

Ich empfinde das, was du beschreibst, überhaupt nicht als Mittelmaß sondern als einen durchaus erstrebenswerten Zustand. Allerdings sehe ich es auch so, dass viele Menschen total überzogene Erwartungen an den Partner und die Beziehung haben. Alles muss perfekt und die Gefühle ständig großartig sein. Und wenn es eben nicht perfekt und großartig ist, sind sie enttäuscht und suchen sich den Nächsten, der dann bitteschön ihre Erwartungen erfüllen soll. Dass das völlig unrealistisch ist, sehen sie nicht.

Schön zu lesen dass es noch Menschen gibt, die sich auf das Wagnis Ehe einlassen und es auch ernst meinen wenn sie sagen Bis das der Tod uns scheidet.

Ich wünsche dir und deinem Mann auch eine schöne und friedliche Weihnachtszeit.

17.12.2020 15:46 • x 5 #4


Wollie
Zitat von Catalina:
Allerdings sehe ich es auch so, dass viele Menschen total überzogene Erwartungen an den Partner und die Beziehung haben. Alles muss perfekt und die Gefühle ständig großartig sein. Und wenn es eben nicht perfekt und großartig ist, sind sie enttäuscht und suchen sich den Nächsten, der dann bitteschön ihre Erwartungen erfüllen soll. Dass das völlig unrealistisch ist, sehen sie nicht.

so ist es....und deshalb sind so viele alleine und auf ewiger Suche nach Mr. oder Ms. Perfect......und wechseln ständig den Partner oder die Partnerin......bleiben aber am Ende doch allein......

17.12.2020 15:49 • x 1 #5


B
Sehr schön geschrieben.
Liest sich ehrlich, reflektiert und vor allem zufrieden. Wie eine Kolumne!
Könntest du nicht sogar in deiner Langweile bezahlte Artikel dieser Art schreiben? Das wäre doch mal was

17.12.2020 16:34 • #6


Catalina
Zitat von Wollie:
so ist es....und deshalb sind so viele alleine und auf ewiger Suche nach Mr. oder Ms. Perfect......und wechseln ständig den Partner oder die Partnerin......bleiben aber am Ende doch allein......

Eigentlich können einem diese Menschen nur leid tun weil sie nicht verstehen, dass sie auf der Suche nach etwas sind, was es schlicht nicht gibt und damit ihre Lebenszeit verschwenden. Allerdings hinterlassen sie auch oft verbrannte Erde bei ihren (Ex-) Partnern, die es ernst mit ihnen gemeint haben und dann aussortiert wurden, weil nicht perfekt.

17.12.2020 16:40 • x 6 #7


I
Auch ich bin schon über 30 Jahre mit meinem Mann zusammen.
Auch wir haben viele Höhen und Tiefen miteinander erlebt und waren auch schon getrennt.
Ich habe viele Fehler gemacht und daraus gelernt, ebenso mein Mann.
Heute geht es uns miteinander richtig gut.
Ja, es erfordert oftmals ein dickes Fell und Leidensfähigkeit, ebenso wie Kompromissbereitschaft und die Bereitschaft zum Verzeihen.

Letztendlich ist es auch eine Frage des persönlichen Geschmacks, ob man dazu bereit ist.
Es bedeutet dann nämlich auch, dass man nicht immer nur auf mit Schmetterlingen im Bauch auf Wolken schwebt, auf Händen getragen wird, den eigenen Willen durchsetzen kann und nicht ständig prickelnden Sx haben kann.
Wer auf diese Dinge nicht verzichten möchte, ist besser beraten sich ab und zu einen neuen passenden Partner zu suchen oder alleine zu leben.

Es hängt natürlich auch viel davon ab, wie gut man zum Partner passt, ob beide in etwa gleichermaßen kompromissbereit sind und keiner am Ende das Gefühl hat, dass immer nur der eine zurückstecken muss.
Und ganz wichtig: unterm Strich sollte natürlich das Positive überwiegen und der Partner auf Augenhöhe stehen.

Es bleibt eine Frage der Persönlichkeit, ob man bereit ist für eine so lange Beziehung auf einen Teil der eigenen 'Freiheit' verzichten mag. Mein Mann und ich haben es beide gewollt.

Zusammen sehen uns als viel mehr als 2 Hälften. Wir fühlen uns als weit mehr als 'ein Ganzes'.
Wir lachen unheimlich viel, Gesprächsthemen gehen nie aus und sind am liebsten beieinander ohne einander zu erdrücken. Wir lassen dem anderen Freiheit ohne zu kontrollieren. Wir freuen uns aufeinander, wenn einer länger weg war.
Der Preis dafür war ein Stückweit zurückstecken von einigen eigenen Vorstellungen und Wünschen, aber diesen Preis hab ich gerne 'bezahlt'.

Eines habe ich aber niemals, auch nicht in der schlimmsten Krise: meinen Mann oder unsere Ehe als Mittelmaß gesehen.

17.12.2020 17:01 • x 6 #8


J
Ich empfinde die Beschreibung Deiner Ehe auf keinen Fall als Mittelmaß, sondern als etwas besonderes und einzigartiges.
Wunderschöner Beitrag.

17.12.2020 17:09 • #9


DieSeherin
Zitat von Etienna:
Das Mittelmaß, das wir heute haben, scheint jungen Menschen unerträglich.


oh, das was ihr beiden erreicht habt, ist mitnichten mittelmaß! das ist der olymp der liebe! und ich hoffe, den mit meinem mann auch zu erreichen

17.12.2020 17:16 • #10


DieFrau
Liebe Etienna, ich habe selten so einen schönen Beitrag gesehen. Vielen Dank, dass du das mit uns teilst. Weise Worte.

17.12.2020 17:24 • #11


Jane_1
Das ist schön, dass es euch jetzt so gut miteinander geht.
Zitat von Etienna:
, uns gegenseitig belogen und ja sogar betrogen. Alles das kam vor. Manchmal dachte ich, dachten wir, eine Scheidung wäre unausweichlich. Manchmal langweilten wir uns auf so unerträgliche Weise miteinander,


Interessant wäre zu wissen, wie ihr mit den o.g. Situationen umgegangen seid.

Die Menschen, die ich kenne die in den Lobgesang des Zusammenhaltens um jeden Preis und heute schmeißt man ja alles weg etc. einstimmen, beruhigen sich nur selber damit.

Ich nehme ihnen das nicht ab. Ich glaube eher, die Angst vor einem Neuanfang und dem Alleinsein schweißt sie zusammen.

17.12.2020 17:39 • x 3 #12


E
Oh, ich möchte meine bescheidenen Auslassungen über die Liebe und unsere Ehe keinesfalls als Loblied verstanden wissen. Vielleicht hätten wir auch in der kritischen Phase endgültig aufgegeben, hätte es gewisse Zwänge nicht gegeben. Unsere Ehe war nicht immer nur schön. Es gab auch schlimme Zeiten genauso wie berauschend schöne. Schön waren z.b. die Geburten unserer Kinder, die Urlaube mit ihnen an der Ostsee, die Fahrten dorthin im randvoll gepackten VW Bus. Wir haben gesungen, Teekesselchen gespielt und auf Rastplätzen hart gekochte Eier, Frikadellen und Butterstullen vertilgt. Mein Mann und ich waren immer ein gutes Team. Nicht immer einer Meinung aber letztlich doch stets in der Lage funktionierende Kompromisse zu finden.

Und dann gab es da die schlimmen Zeiten. Der Unfalltod meiner Eltern. Die Arbeitslosigkeit meines Mannes nach der Schließung seines Stahlwerks. Seine Alk. und mein Seitensprung. Unsere Trennung, der Absturz, Entzugsklinik, der Freitot seines Bruders. Zusätzlich Schulden und unzählige Sorgen. Ich will das alles gar nicht aufzählen, denn es macht mich traurig. Es zieht mich ins Dunkel und nie wieder will ich dorthin zurück. Wir haben es geschafft wieder ins Licht zu treten. Das alleine zählt. Ja, vielleicht rede ich es schön, indem ich unsere Ruhe und eben das Mittelmaß unseres Alltags feiere. Vielleicht ist das die einzige Möglichkeit, nicht wieder in die Erinnerung an schlimme Zeiten zu versinken. Vielleicht ist das unsere Waffe gegen den Sog des Schmerzes, dessen Kraft manchmal noch spürbar ist. Nenne es wie du willst. Wie ein Vorredner schon sagte, trifft jeder Mensch selbst seine eigene Entscheidung, ganz nach seinem Geschmack. Und die Konsequenzen sind dann eben zu tragen und zu ertragen. Ich kann mit meinen gut leben.

17.12.2020 18:13 • x 4 #13


DieSeherin
Zitat von Etienna:
Ja, vielleicht rede ich es schön, indem ich unsere Ruhe und eben das Mittelmaß unseres Alltags feiere.


das kann ich sehr, sehr gut verstehen! nach all den schicksalschlägen ist ruhe nämlich nicht langweilig, sondern ganz wundervoll - und ich weiß, von was ich rede! (aber das wort mittelmaß finde ich trotzdem unpassend )

17.12.2020 18:38 • x 3 #14


E
Gut, dann nenne ich es das richtige Maß. Ein Pendel schwingt ja auch in seiner Amplitude um den Schwerpunkt herum, bis er endlich genau dort zur Ruhe kommt. Von außen scheint das ein sehr langweiliger Zustand zu sein und eben nicht jedermanns Sache. Für uns ist es ein großes stilles Glück.

17.12.2020 18:46 • x 4 #15


A


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