Diese Untersuchung ist zwar schon im Jahr 2002 gemacht worden, aber ich finde, es ist einfach lesenswert.
TEXT VON Ines Possemeyer
Einsamkeit
Noch nie haben Wissenschaftler so viel Aufwand getrieben, sich dem Menschheitsthema Einsamkeit zu nähern: Sie analysieren Verhalten und Immunfunktionen, Empfindungen und soziale Kontakte - und lassen in Experimenten sogar Tiere einsam sein.
Amerikanische Forscher sind alarmiert durch die Prognosen der Statistiker: Im Jahr 2010 werden in den USA 40 Prozent mehr Menschen allein leben als 1980, darunter vor allem Ältere. In Deutschland ist dieser Trend sogar schon weiter fortgeschritten - die Zahl der Single-Haushalte hat sich in den vergangenen 30 Jahren mehr als verdoppelt. Alleinlebende, Alleinstehende und jene mit einem schwachen sozialen Netzwerk haben im Durchschnitt mehr Gesundheitsprobleme und eine geringere Lebenserwartung als andere. Wir vermuten, dass Einsamkeit dabei eine wichtige Rolle spielt, so John Cacioppo, Leiter des Chicagoer Projekts Soziale Isolation, Einsamkeit, Gesundheit und der Alterungsprozess. Er wagt eine Definition: Einsamkeit spiegelt wider, wie ein Mensch seine soziale Situation empfindet - wie isoliert oder innerlich abgetrennt von der Welt er sich fühlt.
Aus der Verknüpfung von Tierversuchen, der genauen Beobachtung von 240 älteren Menschen und der Analyse umfangreicher sozio-demographischer Daten soll in Chicago von der genetischen Ebene bis zur Rolle von Familie und Nachbarschaft ein differenziertes Bild der Einsamkeit entstehen: Welche Bedeutung hat die Lebenssituation, welche die Persönlichkeit? Wie geht das Gefühl unter die Haut und verändert Hormon-, Nerven- und Immunsystem?
Ganz weit vorn: Zweisamkeit
Gefragt danach, was sie glücklich macht, nennen die meisten Menschen hierzulande nach der Gesundheit eine erfüllte Partnerschaft, Familie und Menschen, von denen sie geliebt werden, gefolgt von einem Lebenssinn.
Entsprechend schmerzhaft ist es deshalb, wenn das Bedürfnis nach Verbundenheit ungestillt ist und das Alleinsein ungewollt. Isolationshaft und Verbannung gelten nicht umsonst in vielen Kulturen als schlimmste Strafe, so Cacioppo. Und selbst wer physisch unter Menschen ist, kann sich ähnlich ausgestoßen, abgetrennt und wertlos empfinden. Nicht nur die Psyche reagiert, sondern - untrennbar mit ihr verknüpft - der gesamte Organismus: Säuglinge drohen ohne enge Bindung an andere körperlich und seelisch zu verkümmern; einsame Erwachsene leiden unter Erschöpfung, Magenbeschwerden, Kopfschmerzen und Herzproblemen. Sie entwickeln Depressionen und sind besonders stark suizidgefährdet.
Bedeutung der frühen Kindheit
Die wenigen Langzeitbeobachtungen, die es zur Einsamkeit beim Menschen gibt, erstrecken sich über kaum mehr als ein Jahrzehnt. Zahlreiche Querschnitte durch verschiedene Altersgruppen zeigen allerdings, dass Einsamkeit ein drohender Schatten über allen Lebensphasen ist. Unweigerlich taucht er auf, wenn wichtige Verbindungen abreißen: etwa durch Umzug, Trennung oder Tod. Manchen aber ist er ein ständiger Begleiter.
Ein Grundton wird schon in den ersten Lebensjahren gelegt, wie Studien zur Bindungstheorie nahe legen. Ihr Begründer, der britische Psychiater John Bowlby, postulierte bereits in den 1960er Jahren die fundamentale Bedeutung der Bindung zwischen dem Kleinkind und seiner Mutter oder einer anderen wichtigen Bezugsperson: Sie schafft eine sichere Basis, von der aus das Kind die Welt erkunden kann - ansonsten wäre es verunsichert, in permanenter Angst, verlassen zu werden.
Einer der derzeit wichtigsten Ansätze, die Bindungsstile Erwachsener zu kategorisieren, stammt von der Psychologin Kim Bartholomew. Sie unterscheidet vier Typen, deren Steckbriefe ungefähr so lauten könnten:
Sicherer Typ: hat keine Probleme, enge Bindungen einzugehen, auf andere angewiesen oder für andere da zu sein. Ängstigt sich aber auch nicht davor, partnerlos zu sein, oder nicht akzeptiert zu werden. Er trägt das geringste Einsamkeitsrisiko.
Anklammernder Typ: leidet ohne feste Beziehung; möchte sich mit anderen eins fühlen, gewinnt jedoch den Eindruck, dass andere sein Bedürfnis nach Nähe nicht gleichermaßen teilen. Sorgt sich, nicht genug geschätzt zu werden.
Ängstlicher Typ: wünscht sich enge Bindungen, findet es aber schwierig, anderen zu vertrauen oder abhängig zu sein. Aus Angst, verletzt werden zu können, lässt er niemanden wirklich nah an sich heran. Von Einsamkeit ist er am häufigsten bedroht.
Abweisender Typ: fühlt sich ohne enge Beziehungen wohl und verneint das Bedürfnis nach Nähe. Will auf niemanden angewiesen sein und möchte auch nicht, dass andere von ihm abhängen.
Der abweisende Typ zeigt nur ein mittleres Einsamkeitsrisiko, obwohl er Bindungen meidet: Weil er schon früh Ablehnung und emotionale Kälte erfahren hat, so die Bindungstheorie, zieht er sich von Menschen zurück und wendet sich lieber Dingen zu. Daher hat er vermutlich von allen Bindungstypen die geringsten Probleme, sehr viel Zeit mit sich alleine zu verbringen.
Vom Segen der Einsamkeit
Die Enthebung von der Zeit und sozialen Kontakten kann aber auch bereichernd sein. Das zeigen sogenannte Isolations.perimente des Max-Plank-Instituts für Verhaltensphysiologie in Andechs. Für mehrere Wochen lebten Freiwillige jeweils allein in ein Zimmer gesperrt: nur mit künstlichem Licht, ohne Radio, Fernsehen oder Telefon. Einziger Kontakt zur Außenwelt waren Briefe. Sie durften für diese Zeit vom Klavier bis zum Heimtrainer mitbringen, was sie wollten; konnten lesen, arbeiten, kochen. Ziel war es, die chronobiologischen Rhythmen des menschlichen Organismus in einer zeitfreien Umgebung zu beobachten - doch die Experimente gaben auch bemerkenswerte Einblicke in das Alleinsein.
Am Anfang stand bei allen die Frage: Halte ich das durch, berichtet Jürgen Zulley, der die Versuche geleitet hat. Anschließend sagten 80 Prozent, sie würden gerne wiederkommen. Vor allem der Wegfall äußerer Reize wurde als extrem positiv empfunden: Literatur, Musik, Träume waren viel intensiver. Die Konzentration und Intensität war verblüffend, so Zulley. Man merkt erst dann, wie viel durch die Reizüberflutung im Alltag untergeht.
Entscheidend war, dass alle die Möglichkeit hatten, abzubrechen. Anschließend brauchten die Testpersonen eine Woche, um sich wieder an den Alltag zu gewöhnen - doch auch später zeigten Persönlichkeitstests, dass sie wesentlich ruhiger und ausgeglichener geworden waren.
Suche nach Gesellschaft
Allein zu sein fällt besonders Jugendlichen schwer - vor allem am Wochenende, wie amerikanische Wissenschaftler mithilfe aufwendiger Messungen festgestellt haben. Dass sie einsam seien, erklärten mehr als 20 Prozent der 12- bis 16-Jährigen in einer großen Befragung in den USA, Australien und Irland. Bei 20-Jährigen waren die Einsamkeitswerte dagegen deutlich niedriger. Die Pubertät birgt möglicherweise das größte Einsamkeitsrisiko: wenn der Drang nach neuen Bindungen wächst - aber auch der Wunsch nach Autonomie; wenn Gleichaltrige zum wichtigsten Maßstab für den Selbstwert werden - aber auch die eigene Identität noch gefestigt werden muss. Wem es in dieser Zeit nicht gelingt, genügend Freundschaften aufzubauen, die Zugehörigkeit vermitteln, der läuft Gefahr, sich sozial isoliert und einsam zu fühlen. Aber auch, wer auf die Frage nach Lebenssinn und persönlicher Bedeutung keine erfüllenden Antworten findet.
Allein in der Anonymität? Nach einer Studie von Walter Bien am Deutschen Jugendinstitut zählen allein lebende Singles doppelt so viele Verwandte, zweieinhalbmal so viele Freunde und sechsmal mehr Nachbarn zu ihrem engen persönlichen Kreis als jene, die mit Partner und Familie leben. Dabei zeigt sich allerdings ein eklatanter Geschlechtsunterschied: Zwar sind deutlich mehr Frauen als Männer partnerlos, aber sie sind zufriedener mit ihrem Leben und haben größere soziale Netzwerke. Von den Frauen sind viele sehr gut ausgebildet, so Bien. Bei Männern dominieren dagegen die weniger erfolgreichen am unteren Ende der sozialen Leiter.