Manchmal möchte man ja einfach alles hinter sich lassen und bei Null anfangen wie ein unbeschriebenes Blatt, in das niemand mit scharfer Feder und Tinte immer wieder an der gleichen Stelle Verletzungen geritzt hat.
Ich staunte, als gestern ein mehr als vierstündiger Redeschwall über unzählige Banalitäten über mich hingweg und durch mich hindurch tobte. Dieser mit Nachdruck und Empörung vorgetragene *beep* machte mich aggressiv, weil Punkt für Punkt so null und nichtig waren, dass jeder einzelne Buchstabe zu schade dafür wäre - selbst das Ypsilon, das in unsere Sprache ja wahrlich keine Pool-position hat. Wie können Menschen, die einem mal so nah waren, nur so Gott verdammt erbärmlich oberflächlich geworden sein?
Ich staunte, als ich in einem Nebensatz zwischen all den Banalitäten etwa gegen Stunde drei überraschenderweise erfuhr, dass Dritte mich nun nicht mehr für suizidal halten würden, während der Monolog schon eine mehr oder weniger elegante Wendung zur Beleuchtung der Frage machte, ob kurzärmelige Hemden eine angemessene Kleidung im Back Office wären. Ich wollte brechen und schütteln und weg. War aber meine Wohnung.
Ich staunte und dachte so bei mir:
Immerhin bin ich offenbar interessant genug, um über mich zu reden. Aber offensichtlich bin ich nicht wichtig genug, als dass mich einer der grandiosen Diagnostiker mal gefragt hätte, wie es mir geht. Naja, wer weiß, vielleicht war ich einfach nur nicht dabei, als sie mich fragten.
Flitzpiepen!Nun denn, ich bin froh, dass mir attestiert wurde, ich würde nun nicht mehr von der Brücke springen wollen und dass ich das sogar erfahren durfte. So Arzt- äh Tratschbriefe sind ja doch oft eher vertraulicher Natur und wenn man Pech hat, erfährt man gar nicht, dass man sich mal um den nächsten Baum wickeln wollte und das nun nicht mehr will.
Was wurde damals für ein Bohei um meinen Arztbrief aus der Klinik gemacht. Da dachte ich echt, ich muss so richtig einen an der Waffel haben, wenn mir dieser nicht zuzumuten ist. Ich dachte, ich müsste klagen, um an den Inhalt zu kommen. Letztlich erbarmte sich jemand innerhalb unseres Gesundheitssystems und las mir das Ding vor. Aber in die Hand bekam ich es nicht. Und was war? Gar nichts, das ich nicht eh schon gewusst hätte! Mannomann. Meiner Mutter dagegen wird unverdrossen jeder Bericht über neue Metastasen ausgehändigt, ohne dass zuvor ein Arzt mit ihr gesprochen hätte.
Ich staunte über meine Gewaltfantasien während dieses immensen gestrigen Redeschwalls, an deren Ende die monologisierende Person sich in ein Spanferkel mit Apfel im Maul verwandelt hatte, das sich am Spieß drehte und alles, was von ihr noch zu vernehmen war, war ein leises befriedigendes Zischen, wenn ihr Fett auf die heiße Kohle tropft.
Was verbindet mich mit diesem Menschen? Es ist meine Aufgabe, das zu klären.
Ich staunte über die wiederkehrende Erkenntnis, dass sich alles im Leben zu wiederholen scheint und darüber, wie man das Gefühl haben kann, die allwissende Müllhalde oder eine 1000jährige Schildkröte zu sein, die alles schon einmal erfahren, erlebt und erlitten hat.
Puhhhh! Nicht meine Woche dieses Leben.
Manchmal sind da die kleinen Lichtblicke, in denen eine Kollegin zu einem sagt:
Ich finde es schön, dass du da bist.
Man tut es ab und denkt und sagt:
Es sind ja auch viele Kollegen krank zur Zeit.
Und sie sagt:
Nein, ich meine, ich finde es schön, dass
DU jetzt bei uns bist.
Danke an G. Deine Freundlichkeit und Zugewandtheit habe ich heute gebraucht.
Es geht weiter.