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Verzeihen um sich selbst zu helfen

N
Ich finde die Begriffe vergeben und verzeihen sehr schwierig und lehne sie persönlich ab.
Weil man sich damit auf eine höhere Position stellt als der andere, über den anderen. Quasi wie ein Richter, der es besser weiß, der den anderen erstmal verurteilt und ihm dann eben verzeiht. So als würden nur die eigenen, persönlichen, subjektiven Werte und Maßstäbe die einzig richtigen sein.

Ich glaube nicht, dass ich das Recht dazu habe, über andere zu bestimmen - wie die sich verhalten sollen, was angemessen ist und was nicht. Jeder darf sich so verhalten, wie er persönlich es für richtig hält. Und so gut er es eben kann, mit seiner Geschichte, seinen Kompetenzen, seinem Denken und Fühlen. Wäre ich in seinen Schuhen, würde ich mich ja genauso verhalten.

Also brauch ich niemandem irgendetwas zu verzeihen. Im Grunde hab ich nicht mal ein Recht dazu.

Aber ich kann den anderen so sein lassen, wie er ist. Ich kann ihn sein lassen, wer er ist. Ihn so sehen, wie er ist. Akzeptieren, dass er eine andere Person ist. Nicht mich in ihm sehen oder mich in seine Situation versetzen. Ihn anerkennen in seiner einzigartigen und besonderen Art. Das nenne ich radikale Akzeptanz.

Im Grunde ist es auch eine kindlich egozentrische Weltsicht, wenn ich enttäuscht bin, weil andere sich nicht so verhalten, wie ich mir das vorstelle und wie ich selber mich vielleicht in dieser Situation verhalten würde. In so einem Moment vergessen wir, dass ein anderer Mensch nun mal ein völlig anderer Mensch ist. Er macht es eben so, vielleicht weil er es für richtig so hält oder vielleicht, weil er schlicht nicht anders kann. Und dafür gibt es persönliche und ganz individuelle Gründe.

Und im Grunde kann mich ein anderer Mensch auch gar nicht verletzen. Wenn er sich trennen möchte, hat er dazu jedes Recht der Welt. Auch wenn ich lieber weiter mit ihm zusammen wäre. Wie er das dann abwickelt ist ebenfalls seine Sache. Und ich kann auch hier nicht erwarten, dass er das so macht, wie ich es machen würde. Wenn ich es denn überhaupt tatsächlich vermeintlich besser oder eben anders machen würde. Das übersehen wir auch gerne.

Natürlich bin ich dann traurig, denn ich möchte ja mit ihm weiterhin zusammen sein. Aber doch im Grunde auch nicht gegen seinen Willen, oder? Dann werden halt meine eigenen (alten oder Kindheits-) Themen getriggert, vielleicht, ob ich gut genug bin, ob ich liebenswert bin oder was auch immer. Und manchmal ist es auch einfach gekränktes Ego. Oder es kommen alte Verletzungen von früher hoch. Und für all diesen Schmerz, die Trauer, die Gefühle ist ja der andere gar nicht verantwortlich. Oder soll er etwa sein Leben so führen, dass es mir gut geht?

Also darf ich die Gefühle ausfühlen, am besten ohne sie zu bewerten oder - schlimmer noch - mit dem Verstand anfangen zu interpretieren. Im Sinne von das fühle ich jetzt alles, weil der andere sich so uns so verhält. Die Gefühle dürfen einfach da sein. Und sie gehen auch wieder vorbei. Weil Gefühle nur temporär sind. Davon unabhängig kann ich mir die aufkommenden Gedanken und Glaubenssätze ansehen und sie bearbeiten, auflösen, umformulieren.

Nicht zuletzt kann ich schauen, wie ich mir das, was mir nun durch den Verlust des Partners fehlt im Leben, selber geben kann. Wie ich gut für mich sorgen kann und mir ein liebevoller Partner sein kann.

Andere sein lassen, wer sie sind. Akzeptieren was ist. Gut für mich selber sorgen.
Das Loslassen stellt sich dann von ganz alleine ein.

13.12.2019 14:52 • x 5 #31


cybergnom
@Noumea
Dein Post liest sich wie eine Abhandlung aus einem Buch für theoretische Mathematik. Inhaltlich sicher richtig, allerdings nahezu unmöglich in der Realität umzusetzen.

Bei einer Trennung wird in aller Regel gegen einen oder mehrere Grundsätze des Lebens eines der Beteiligten verstoßen. Einfachstes Beispiel: Ex geht fremd bzw. hat eine Affäre. Deiner Meinung nach sollte der betrogene Part nun denken: hm, blöd. Aber er/sie ist nunmal so, das ist schon ok
Damit würde der Verlassene aber komplett gegen seine eigenen Grundwerte und Moralvorstellungen handeln. Zu sagen: hey, fremdgehen passt schon, alles nicht so dramatisch bedeutet gleichzeitig, die selbst gesetzten Glaubenssätze über den Haufen zu werfen.

Würde mich meine Partnerin belügen, könnte ich nicht hergehen und so tun als wäre nichts passiert. Nur weil sie halt so ist wie sie ist. Sorry, das ist in meiner Welt ein absolutes NoGo.

ABER ich könnte es vielleicht verstehen und es dadurch akzeptieren und verzeihen.

Für mich gibt es in meinem Leben nur ein richtig. Wenn ich daran zweifeln würde, wäre ich jeden Tag im Konflikt mit mir selbst.

13.12.2019 19:09 • x 1 #32


A


Verzeihen um sich selbst zu helfen

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N
Zitat von cybergnom:
Würde mich meine Partnerin belügen, könnte ich nicht hergehen und so tun als wäre nichts passiert.


Ich auch nicht. Ich würde halt meine Konsequenzen für mich daraus ziehen. Gemäß meiner persönlichen Werte.

Zitat von cybergnom:
Für mich gibt es in meinem Leben nur ein richtig.


Genaus das schrieb ich ja. Für jeden gibt es nur sein richtig.

13.12.2019 19:24 • #33


E-Claire
@Noumea
spannend, ich habe heute Vormittag auch darüber nachgedacht, ob vergeben bzw verzeihen nicht eher Akzeptanz lauten sollten.

Ich denke, daß es bei Begriffen wie verzeihen auch immer eine moralische Komponente gibt. Manchmal gar nicht so sehr, daß sich höher stellen, sondern eben auch, daß manchmal eben Dinge passieren, die nicht zu verzeihen sind.

Ich glaube, es ist wichtig auch offen darüber zu reden, daß es Dinge gibt, bei denen dieses Verzeihen befreit einfach fehl am Platz ist.

Ob man verzeiht oder nicht, ist persönliche Entscheidung und hat sicher viel mit dem eigenen Wertekanon zu tun.
Akzeptanz allerdings, dessen, was passiert ist, sich nicht ständig wieder mit einem was wäre wenn oder wenn eben nicht zu befassen, ist essentiell, um das eigene Leben wieder frei gestalten zu können.

13.12.2019 19:31 • x 3 #34


N
Zitat von E-Claire:
Akzeptanz allerdings, dessen, was passiert ist, sich nicht ständig wieder mit einem was wäre wenn oder wenn eben nicht zu befassen, ist essentiell, um das eigene Leben wieder frei gestalten zu können.


Genau. Wenn ich immer wieder will, dass der andere sich aber doch so verhalten soll, so denken und handeln soll, wie es meinen Vorstellungen entspricht, dann renne ich halt gegen eine Wand. Dann kann ich mich fragen, will ich Recht haben oder will ich frei sein.

@cybergnom
Und das heißt natürlich nicht, dass ich alles hinnehme, wenn mir das Verhalten anderer nicht gefällt und meinen persönlichen Werten nicht entspricht. Ich kann doch frei entscheiden, ob ich mit jemandem, der mich betrügt noch zusammen bleiben will. Ich kann selber entscheiden, mit wem ich in einer Beziehung, Freundschaft, oder familiär in Kontakt sein möchte. Dann treffe ich halt eine Entscheidung für mich, mit der ich mich wohl fühle und die mir langfristig gut tut.

Wenn ich meinen Werten treu bleibe, dann kann mich z.B. auch niemand ausnutzen. Dann kann ich mir doch jedesmal überlegen, möchte ich das jetzt aus freien Stücken tun, weil es mir Freude macht, oder lasse ich es bleiben.

13.12.2019 19:50 • x 1 #35


Paloma
Zitat von Fullspeed:

Was ich dir empfehlen kann ist MBSR nach Jon-Kabat-Zinn. Im besten Fall in Form eines Seminars, wenn das bei dir in der Gegend angeboten wird. Ansonsten sind seine Bücher sehr empfehlenswert, um einen Einblick in Meditationstechniken und Achtsamkeit zu erlangen. Das ist mein persönliches Geheimrezept dazu und würde ich als den Schlüssel zum Loslassen, Annehmen und Verzeihen definieren.

Ansonsten Mindfulness Based Self Compasion - dabei geht es darum sich selbst mitfühlend wie einen guten Freund in einer schwierigen Situation behandeln zu lernen. Das hat Auswirkungen auf den eigenen inneren Dialog und den Nebeneffekt, dass man andere ebenso behandelt, auch für vielleicht Verletzendes in der Vergangenheit mehr Verständnis erlangen kann.

Metta Meditationen sind der letze Punkt den ich diesbezüglich nennen möchte. Das ist (wie auch die anderen Themen) recht komplex. Bei Interesse kannst du es googeln. Für eine gelingende Metta Meditation ist allerdings Vorerfahrungen im Bereich Meditation - zum Beispiel in Form der anderen beiden genannten Techniken - meiner Meinung nach erforderlich.

Vielleicht ist da was für dich dabei. Ich wünsche dir alles Gute und liebe Grüße


vielen lieben Dank! Habe MBSR in 2016 kennenlernen dürfen, hat mir sehr geholfen! Ich mag den bodyscan sehr, habe leider noch keinen passenden MBSC- Kurs gefunden...

Witzig mit der Metta-Meditation, habe von einer lieben Freundin davon gehört... aber mich noch nicht rangetraut, wie sind Deine Erfahrungen damit? Ganz liebe Grüße von Paloma, Alles Liebe Dir!

27.01.2020 21:54 • #36


Pocahontas
Du musst dich jetzt nicht dazu zwingen ihm zu verzeihen nur weil man sagt dass es einem gut tut.

Ja irgendwann solltest du schon verzeihen, da es einem eine Erleichterung gibt. Aber zwinge doch nicht, gibt dir selbst die Zeit die du dazu benötigst. Alles andere ist doch Selbstbetrug.

Alles Gute Dir!

27.01.2020 22:00 • x 1 #37


Paloma
Zitat von Poccahontas91:
Du musst dich jetzt nicht dazu zwingen ihm zu verzeihen nur weil man sagt dass es einem gut tut.

Ja irgendwann solltest du schon verzeihen, da es einem eine Erleichterung gibt. Aber zwinge doch nicht, gibt dir selbst die Zeit die du dazu benötigst. Alles andere ist doch Selbstbetrug.

Alles Gute Dir!


Danke Dir! Ich weiß, dass ich verzeihen kann, da ich seine Trigger-Punkte kenne. Das Loslassen, die Vorstellung, sich nie wieder zu sehen, fällt schwer. Das kenne ich von einer anderen Beziehung besser... ich konnte verzeihen und damit auch loslassen... heute sind wir (nach 18 Jahren Beziehung, kenne auch meine Nachfolgerin) freundschaftlich verbunden..- ich werde wohl verstehen müssen, dass es nicht immer so geht... LG, ich wünsche Dir alles Liebe und danke für Deine Antwort!

27.01.2020 22:09 • #38


S
Verzeihen kann man alles was verzeihbar ist! Und dafür bräuchte ich für mich persönlich zumindest eine Entschuldigung.
Aber leider gibt es auch Verhalten, da hilft keine Entschuldigung... da bleibt nur:

Vergeben und vergessen? Ich bin weder Jesus, noch hab ich Alzheimer!

27.01.2020 22:16 • x 1 #39


T
Vergebung und Verzeihen finde ich sind keine leichten Themen. Ich habe für mich beschlossen, dass es Handlungen innerhalb der Beziehung und im Zuge der Trennung gab, die ich für mich ablehne und innerhalb meines Wertesystems nicht ok sind. Diese werde ich nicht bewusst verzeihen, stattdessen denke ich, dass sie irgendwann keine Rolle mehr für mich spielen werden.

Dagegen habe ich die Trennung, also die Entscheidung zu gehen, akzeptiert. Vergebung spielt im Rahmen von Akzeptanz für mich keine Rolle mehr.

Und ich denke nicht, dass Verzeihen ein Akt ist mit dem man sich über den anderen erhebt. Zum einen braucht es den anderen nicht dafür und zum anderen, ist das ein Akt der Selbstermächtigung, der unabhängig davon ist, wie ob der andere da jetzt noch groß Emotionen zu hat. Man wird dem anderen höchstwahrscheinlich nicht mehr begegnen, wieso sollte ich dann noch solche Gedankengänge haben, ob er sich da jetzt klein fühlt mit, weil ich ihm verzeihe. Nö, macht für mich keinen Sinn.

Und wenn mich jemand um Vergebung/Verzeihung bittet, sollte es aufrichtig sein, dann empfinde ich es von beiden Seiten als respektvollen Akt, zu bitten und zu verzeihen.

Ansonsten sehe ich es so, dass das Konzept von Vergebung und auch von Loslassen einfach langwierige Prozesse sein können. Manchmal habe ich verziehen, manchmal war es nicht nötig. Ich habe losgelassen, wenn es mich emotional nicht mehr triggert. Das ist bei mir leider keiner willentlicher Akt, sondern passiert eben innerhalb eines Prozesses. Habe ich erst mal losgelassen, dann tatsächlich für immer.

Zum Schluss: Vergeben und loslassen sind in aller Munde und der Zwang beides umsetzen zu müssen, kann nicht gesund sein. Das kann zu noch mehr Selbstzweifeln führen, weil man nicht so schön loslassen und vergeben kann, wie all die anderen da draußen. Wahlweise schnell wieder funktioniert.

Wie auch immer schwieriges, aber sehr spannendes Thema.

29.01.2020 15:26 • #40


T
Dazu noch eine interessante Perspektive


www.psychologytoday.com/us/blog/is-psyc...-yet%3famp

29.01.2020 15:37 • #41


F
Zitat von Paloma:
vielen lieben Dank! Habe MBSR in 2016 kennenlernen dürfen, hat mir sehr geholfen! Ich mag den bodyscan sehr, habe leider noch keinen passenden MBSC- Kurs gefunden...

Witzig mit der Metta-Meditation, habe von einer lieben Freundin davon gehört... aber mich noch nicht rangetraut, wie sind Deine Erfahrungen damit? Ganz liebe Grüße von Paloma, Alles Liebe Dir!


Hallo Paloma,

Das freut mich zu hören, dass du MBSR bereits für dich entdeckt hast und somit Vorerfahrung diesbezüglich hast.

Damit hast du bereits ein Werkzeug, mit dem du diesbezüglich alles erreichen kannst, wenn du loslassen oder auch verzeihen möchtest. Und wenn sich deine Psyche (noch) dagegen sträubt, dann ist das doch auch in Ordnung.

Wenn du dich erinnerst: Du kannst Gedanken, bezüglich deines Ex, einfach im gegenwärtigen Moment feststellen und beobachten, diese wertfrei betrachten und anschließend freundlich, aber bestimmt zu deiner Atmung (oder auch den Empfindungen der jeweiligen Körperstelle beim Bodyscan) zurückkehren. Die Gedanken und Emotionen diesbezüglich kommen und gehen lassen, ohne an diesen anzuhaften.

Wenn du die unveränderlichen Dinge akzeptierst wie sie sind, ist das ein Schritt Richtung loslassen. Verzeihen muss nicht heißen, danach wieder ein freundschaftliches Verhältnis zu deinem Ex zu pflegen. Hassen ist immer der falsche Weg, sich zu schützen jedoch eine wichtige Qualität. Vielleicht reicht es keinen Groll mehr zu hegen und ihm gedanklich alles Gute für sein eigenes Leben - an dem du nicht teilnehmen wirst - zu wünschen.

Mit Metta-Meditation habe ich wundervolle Erfahrung gmacht. Ich kann dir bei Interesse diesbezüglich das Buch von Joseph Goldstein Liebende Güte - Die Praxis der Freiheit empfehlen. Ich richte mich bei meiner eigenen spirituellen Praxis diesbezüglich hauptsächlich nach seinen Empfehlungen. Das heißt aber auch, dass es für wirksamen Metta-Meditation nicht damit getan ist, dies auf dem Meditationskissen zu praktizieren und von dort aus allen Wesen ein Leben ohne Leid zu wünschen. Viel mehr ist Metta, auch im realen Leben nach Möglichkeit zu helfen, wenn Leid gesehen wird und allen Lebewesen tatsächlich mit einer Einstellung der liebenden Güte zu begegnen.

01.02.2020 09:48 • x 3 #42


Paloma
1Jahr weiter... - ich bin froh, im Jahr 2019 einfach das Telefonat mit ihm beendet zu haben. Mein Ex quälte mich damals wieder mit Vorwürfen... - es erfüllt mich mit Stolz, mich nicht wieder auf ihn eingelassen zu haben. Es war sehr schwer, da er ein Narzisst ist. - egal, ich arbeite an mir, jetzt war ich im Akut-KKH weg. Der Schuppenflechte. Nach 14 Tagen dort geht es mir Schuppi-technisch besser. Und auch sonst war es toll, auf der Insel "abschalten" zu können. Es war schon ein Geschenk, in den Pandemie-Zeiten auf einer Nordsee-Insel weilen zu können. Es geht mir - trotz Corona - ganz gut. Ich habe meine Kontakte zwar eingeschränkt, doch ich werde nicht wieder, wie vor ein paar Wochen, in ein Loch fallen. Ich hatte mich damals selbst sehr isoliert. Das tat nicht gut. - mal sehen, was ich in einem Jahr wieder schreiben kann. Hoffentlich bin ich dann geimpft und Corona bestimmt nicht mehr das tägliche Leben.

11.04.2021 21:46 • x 2 #43


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