Guten Abend
Narzissmus aus Sicht der Anthropologie. Die Einführung ist lang und nicht vermeidbar um den Kern zu verstehen. Schonungslos wird der Leser am Ende mit der Wahrheit konfrontiert. Verpackt eure Eigenanteile in die hinterste Ecke, nein, begrabt sie besser denn es gibt sie nicht. Wir besitzen ein ICH und sollten das optimal für unsere Ex.N. Verarbeitung nutzen.
Im Narzissmus tritt uns ein Störungsbild entgegen, das von der Problematik der Selbstfindung
der Person bzw. der individuellen Selbstwertausbildung geprägt ist. Die Selbst-Wertung –
kurz gesagt: die intime Ich-Findung und die Ausbildung eines Selbstwertes im Außenbezug,
ist ein großes, lebenslanges Thema eines jeden Menschen. – Wer hat sich nicht schon mit diesen
typischen Fragen konfrontiert gesehen wie: „Darf ich so sein, wie ich bin? Darf ich im
Beruf, in der Partnerschaft, bei meinen Eltern ich sein?“
Dabei handelt es sich um ein Thema, das wir nicht nur mit uns allein ausmachen können. Das
Thema der Selbstwertung stellt uns unvermittelt vor eine Öffentlichkeit, hält uns den Spiegel
der Gesellschaft vor. Das Thema des Narzissmus ist daher auch Thema jeder Kultur und Gemeinschaft.
Die Gemeinschaft hat Normen, erlaubt mit offenen und subtilen Gesetzen, wie weit der einzelne
das Recht hat, so zu sein und das zu tun, was er will. Sie fördert das, was ihr genehm
ist, bestraft das andere. Es sind oft sehr versteckte Methoden, die da in die „Über-Ich-
Bildung“ einfließen. Eine starke Einflussgröße ist z.B. der Trend, das, was derzeit „in“ ist, was
unter Jugendlichen und Erwachsenen zählt bzw. geächtet wird. Die Offenheit im Umgang
miteinander schreibt in einer Familie, in einer Schule usw. unsichtbare Gesetze fest, wie weit
der einzelne gehen darf. Darf ich dem Kollegen beispielsweise sagen, dass ich mir Sorgen um
ihn mache, weil er jeden Morgen einen Alk. hat? Ist das ein verantwortungsvoller
Umgang, oder wird damit bereits eine persönliche, intime Grenze überschritten?
Bestehen hier gesellschaftliche Tabus? Oder sind es persönliche Grenzen, Unsicherheiten,
oder vielleicht Scham, gar Feigheit? Der Erziehungsstil unserer Zeit prägt narzisstische Tendenzen
stark. So wird beispielweise die Durchsetzungsfähigkeit der Jugendlichen und Kinder
gefördert - und nicht mehr so wie früher die Bescheidenheit - sie ist heute keine „Zier“ mehr.
Es wird die Vorrangigkeit der individuellen Bedürfnisse vor dem Allgemeinwohl betont, die
Bedeutung der Selbstverwirklichung, der Entfaltung des Eigenen, des Kreativen, der Wert des
Besitzes usw.
Der Konflikt zwischen dem Ich und der Gemeinschaft ist unausweichlich mit dem Thema der
Selbstwerdung verbunden. Denn für die Ich-Bildung ist einerseits eine Abgrenzung erforderlich,
andererseits bedingen Ich und Gemeinschaft einander und sind nicht zu trennen. In der
Folge steht das Narzissmus-Thema in der Spannung zwischen Intimität und Öffentlichkeit,
zwischen Abgrenzung und Offen sein, zwischen Ich und Du, zwischen wechselseitiger Angewiesenheit
und gegenseitiger Behinderung. Diese Spannung wirft auch intime Ängste vor
dem Bestehen-Können in der Gemeinschaft auf. „Wenn mich die anderen so sehen, wie ich
bin – werde ich dann noch geliebt, geschätzt, geachtet? Kann ich mich lieben, wenn mich die
anderen nicht lieben? – Wie weit muss ich mich den anderen anpassen?“
Ohne Zweifel hat unsere Zeit starke narzisstische Züge, wo Egoismus, Individualismus,
Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung, das Lösen gehemmter Aggressionen, sowie Eigennutz
in einer liberalen, die Eigeninitiative fördernden Marktwirtschaft kultiviert wird. Es
scheint diese Geisteshaltung der Motor zu sein, der alles in Schwung hält: Wirtschaft, Pädagogik,
Privatleben, Politik, auch die Psychotherapie. Aber es scheint dies auch das Leiden
unserer Zeit zu sein, deren Eltern für die Kinder weniger greifbar sind, deren Kinder mehr
Zeit vor dem TV-Gerät sitzen als in der Familie beisammen sind, in der das Altern einsamer
wird, wo die Selbstmordrate trotz bester medizinischer und psychologischer Versorgung höher
ist als die Zahl der Verkehrsunfälle.
Ich glaube um das Phänomen des Narzissmus verstehen zu können, geht es um Fragen wie: Wer bin ich?
Wie kann ich ‚ich’ sein, mehr ‚ich’ sein, ‚ich’ werden? - Wie kann es persönlich werden in meinem
Leben, in meinen Beziehungen? - Was kann ich tun, damit ich dieses Ich nicht nur finden,
sondern auch schätzen kann?
Um sich selbst sein zu können, sind zwei Voraussetzungen unabdingbar für mich: Ein abgegrenztes
Verhältnis zur Welt und zu den anderen Menschen, und ein klarer Umgang mit mir selbst – Dies zu können hat Voraussetzungen wie:
· Selbstwahrnehmung und Abgrenzung,
· Bezug zum Eigenen,
· Selbst-Beurteilung, usw.
Das heißt konkret: sich selbst sein kann man nur, wenn man sich zuerst selbst zu Gesicht bekommt
und ein Bild von sich gewinnt. Das geht über eine gewisse innere wie äußere Distanz
zum eigenen Handeln, Fühlen und Entscheiden. Diese Distanz zu sich selbst ist erst zu schaffen
und bedarf der Begegnung mit anderen Menschen. Im Kontrast zum anderen wird der
Unterschied des Eigenen deutlicher. - Doch wie schafft es das Individuum, vor den anderen
auch bestehen zu können, ohne den Bezug zu sich selbst zu verlieren? - Im dialogischen
Wechselschritt, mitunter gestützt durch Schutzmechanismen gegenüber anderen, geschieht
eine aktive Abgrenzung von anderen Menschen, wodurch das Eigene und seine Grenze gefunden
werden kann. Wenn der Mensch nun darauf Bezug nimmt und auch das Eigene der
anderen Person respektiert, ist echte Begegnung möglich. Angelangt auf dieser reifen Ebene
der Selbstfindung kann sich die Person in den Kontext der Gemeinschaft stellen, in der ein
freies Selbst sein im Spannungsfeld der Unterschiedlichkeit möglich wird.
Geglückte Selbst-Wertung verlangt daher zwei Dinge: mit innerer Zustimmung und Erlaubnis
sich selbst zu sein, trotz aller Unterschiedlichkeit zu den anderen. Sich nicht verstecken zu
müssen, sich riskieren und zeigen zu können vor anderen, sich nicht schämen zu müssen für
sein Denken und Fühlen, für seine Geschichte, Ziele und Ideale. Dann kann man zu sich stehen,
sich selbst in die Augen sehen und sich sehen lassen – was nur möglich ist, wenn man
andererseits bei aller Selbst-Treue (Subjektpol) auch den anderen gerecht wird und die anderen
lassen kann (Objektpol), diese anderen, durch deren Augen man sich selbst geschenkt
wurde. Denn es waren und sind andererseits jene Blicke der anderen, die uns gesehen haben,
durch die uns unser Eigenes erschlossen wurde. Ohne diese Begegnungen hätten wir nicht
Kein Mensch kann sich selbst werden ohne begegnenden Austausch mit anderen. Das Ich wird
Ich am Du.“ Die Ausbildung des Ich-Kernes kann nur im Medium der Interpersonalität geschehen.
Ohne sich betreffen, antreffen, wecken zu lassen (vgl. das Märchen von Dornröschen),
findet das Ich nicht wirklich statt. – Vielleicht bräuchte ein Ich auch gar nicht ausgebildet
werden, wären wir nicht auf Gemeinschaft angewiesen und müssten uns nicht in ihr behaupten.
So besteht die dynamische Struktur des Personseins in einem Doppelbezug nach innen und
nach außen. Mit einem Fuß ist die Person ganz bei sich in der Intimität und mit dem anderen
in der Öffentlichkeit des Gesehen-Werdens und Angewiesen-Seins auf die anderen.
Innenwelt PERSON Außenwelt
Ist es doch der dynamische Doppelbezug, der die Person kennzeichnet: zugleich sich auf eine Innenwelt und auf
eine Außenwelt zu beziehen, eine Intimität und ein „Gesicht“ in der Öffentlichkeit zu haben.
Darin sehen wir die existentielle Aufgabe der Personenwertung doch, in diesem Doppelbezug den
eigenen Selbstwert zu finden, ihn innerlich zu begründen (in der fühlenden Beziehung zu sich
selbst) und nach außen zu behaupten (in den Taten und in der Auseinandersetzung mit den
anderen Menschen). Dazu braucht es sowohl die Hilfe der anderen als auch die Abgrenzung
von ihnen, das Eingebunden sein in eine Gemeinschaft, aber ohne sich in ihr symbiotisch aufzulösen.
Trotz aller Abhängigkeit von anderen ist doch die Autonomie zu begründen, um die Individualität
in ihrem Wert fruchtbar zu machen.
In dieser Offenheit und diesem atmenden Austausch mit anderen lauern aber auch Gefahren.
Gefahren der Anpassung, der Abhängigkeit, der Indiskretion, der Vereinnahmung, der Entwertung,
des Missbrauchs, des Ich-Verlustes. Gefahren, die von außen auf die Person zukommen
und von innen durch Unreife, Unerfahrenheit, Unausgewogenheit der Fähigkeiten und
Veranlagungen entstehen.
Man steht in dieser Doppelfunktion: sie schafft Intimität in der Innenwelt und Bezogen sein
auf den Wert des anderen. Sie ist Brücke zwischen Ich und Gemeinschaft. Paradoxerweise
hat also die Öffentlichkeit mit unserem eigenen Inneren zu tun. Auf mehreren Ebenen besteht
eine tiefe Verbundenheit des einzelnen mit den anderen, denn im Grunde ist „der andere wie
ich. Wir kommen nicht umhin, wollen wir uns selber sein, uns zu bemühen, auch den anderen
zu lieben und zu schätzen.
Wenn aber die natürliche Offenheit der Person von anderen Menschen abgewiesen wird, missbraucht
wird, in subtiler Weise verwendet wird, führt das zu einem Verlust an gelebtem Person sein,
was sich als Ich-Schwäche oder Ich-Verfremdung bzw. als Sich-selbst-Abhanden-
Kommen zeigt. Es kann schon genügen, einfach nicht gesehen und nicht ernst genommen zu
werden, zu erleben, dass man nicht Wert genug war, uns ein paar Minuten zu widmen, auf
das, was uns bewegt, einzugehen. Es fühlt der Mensch, der den anderen braucht und sucht –
ganz gleich wie alt er ist – ein Verloren-Sein. Wenn sich solches Verloren-Sein wiederholt –
wie kann der Schmerz dieses Ich-Verlustes, dieses Sich-Auflösen wett gemacht, überwunden
werden? – Durch Kompensation mit Objekten, wenn das Subjekt so wenig
zählt. Im Narzissmus erfährt diese Suche des Menschen nach dem Wert des Sich-selber-Seins
die pathologische Ausformung.
Der Mensch steht natürlich nicht nur vor der Aufgabe der Selbst-Wertung und Ich-Konstituierung. Der Vollständigkeit halber möchte ich hier erwähnen, dass es in der Existenzanalyse noch drei weitere ebenso fundamentale Bereiche gibt, die zur Gründung erfüllter Existenz notwendig sind. Da sie in allem Handeln und Entscheiden wirksam sind, werden sie existentielle Grundmotivation genannt:
· Nämlich mit der Welt, ihren Bedingungen und Möglichkeiten zurecht zu kommen,
· mit dem Leben, dem Wachsen, Reifen, Vergehen und der damit verbundenen Lust und ihrem Leid
zurecht zu kommen
· sich seiner Zukunft, dem Außenstehenden und dem größeren Ganzen zu öffnen, also sich handelnd in
einem Sinn zu stellen
Zum besseren Verständnis der Entstehung des Narzissmus:
Besonders im Zusammenhang mit der Begründung des Selbstwertes und der Ich-Bildung sieht die Entwicklungspsychologie nicht auf die ersten Lebensjahre einer Person zurück, sondern
sie sehen es als einen lebenslangen Prozess an. Die Bildung des Ichs, des Selbst, des Selbstwertes
ist nach unserem Verständnis ständig im Fluss, kennt Phasen der Förderung und Belastung
während des ganzen Lebens. Eigentliche „Prägungsphasen“, in denen Determinanten der
Entwicklung stattfinden, die daraufhin für das ganze Leben bestehen oder für immer fehlen,
konnten sie nicht feststellen. Wäre dem nicht so, könnte die Psychotherapie auch nur schwer
Veränderungen bewirken. Gerade für die Selbstwertentwicklung scheint der Mensch in jedem
Alter sensibel zu sein, empfänglich wie verletzlich: schon das einjährige Kind legt sichtbar an
Größe zu, wenn es gelobt wird für sein Gehen, für eine kleine Handlung, für das Toilettentraining.
Und so geht es dem Zweijährigen, dem Vierjährigen, dem Kindergartenkind in seiner
Unsicherheit vor anderen, dem Volksschulkind mit den ersten Lernerfahrungen in der Schule.
Danach folgt wohl eine Phase besonderer Sensibilität für die Ausbildung des Selbstwertes: die
Pubertät, in der es um ein Sich-neu-Finden in einer veränderten Leiblichkeit, Gefühlswelt und
Erkenntnisweise geht. Aber auch der Eintritt in die Berufswelt, in die Beziehungen und in die
Lebensbeziehung stellt stets neue Herausforderungen, Belastungen und Entwicklungsmöglichkeiten
für den Selbstwert dar. Die Lebensmitte, der erste Rückblick auf das Erreichte, das
„Gesattelt sein“ mit all seinen Attributen, die Konkurrenz im Beruflichen, die ersten Alterserscheinungen,
eine Kündigung vielleicht, eine Trennung, eine neue Beziehung, das Klimakterium,
das Erwachsenwerden der Kinder, die Pensionierung usw. sollen nur stichwortartig in
Erinnerung rufen, dass wir uns in unserem Selbstbild und Selbstwert, im Umgang mit uns und
den anderen ständig verändern und auf neue Werte und Fähigkeiten beziehen müssen.
Diese ganzen Prozesse der Veränderung des Ichs geschehen natürlich nicht nur in der Intimität
des Mit-sich-selber-Ausmachens, sondern finden auch in der Öffentlichkeit des Gesehen-
Werdens statt, im Angesprochen-Werden, im Wirken auf andere, sind begleitet von Selbstsicherheit
und Selbstunsicherheit, von der Suche nach einem Selbstverständnis und der Suche
nach Identifikationen mit Figuren, welche die Palette von Pippi Langstrumpf bis zu Terminator
umspannen können. Im Erwachsenenalter wird sie angereichert durch die Aneignung von
Statussymbolen und die Zugehörigkeit zu Gruppen, die vom Reichtum und Einfluss der Familie
über die Peer-Group, den Fußballclub zu allen anderen Formen des Dazugehörens reichen,
wie es im zeitgemäßen Clubbing gerade Mode ist.
Ein zweites Charakteristikum unserer Entwicklungspsychologie besteht darin, dass der Entwicklungsschwerpunkt nicht so sehr auf den bedeutenden anderen, das sind im allgemeinen
Vater und Mutter, gesetzt wird, wie es die tiefenpsychologischen Modelle herausgearbeitet
haben. Unbestritten bleibt, dass die psychisch- geistige Entwicklung gerade des Selbstwertes in
der Interaktion mit anderen stattfindet, und ohne Zweifel haben die ersten markanten Bezugspersonen
dabei eine herausragende Bedeutung. – Aus dem Blickwinkel der Existenzanalyse
sehen wir in der Interaktion des Individuums mit anderen nur die eine Seite- die Außenseite- der Entwicklung des PERSONENSEINS. Die andere Seite, die als ebenso umfangreich und bedeutsam anzusehen ist, die Innenseite, besteht in der Interaktion mit sich selbst, im Bezug zur Innenwelt und zur inneren Tiefe. Diese ist natürlich schwerer zu beobachten und schwerer zu beschreiben als die
Erfahrung mit der Außenwelt. Dennoch ist die Ausbildung von Sichtweisen und Weltanschauungen
als Verstehens Hintergrund und Erkenntnisgrundlage, die Entwicklung von Einstellungen
und Haltungen als Vorentscheidungen für die dann mitunter wie „automatisch“
ablaufenden Handlungen, das begleitende innere Gespräch als konstruktivem Dialog und Zugang
zur eigenen Tiefe inklusive der Gewissenhaftigkeit nicht nur eine Internalisierung oder
Kopie äußerer Interaktionen, mögen sie die inneren Vorgänge noch so sehr bahnen. Wenn es
so etwas wie Freiheit der Person überhaupt gibt – wo könnte sie mehr zum Tragen kommen
als in diesem Selbstbezug? Wo, wenn nicht hier, kann das ganz Persönliche und Eigene aufkeimen
und sich zu dem von außen Erlebten dazugesellen, still, zaghaft, unmerklich vielleicht
am Anfang, oder ungestüm, impulsiv hervorbrechend?
Aus der Sicht der Existenzanalyse kommt dem Individuum ein womöglich ebenso großer Teil
an Mitwirkung in der eigenen psychisch-geistigen Entwicklung zu wie der Umgebung. Es ist
Aufgabe der Person, sich in Umgang mit dem Erfahrenen zu setzen, neue Erfahrungsbereiche
zu suchen, und sich vor anderen zu schützen, das Erfahrene zu bearbeiten und Stellung dazu
zu beziehen. Nur im Falle der Überforderung tritt die Psychodynamik auf den Plan, die in
Form von Copingreaktionen hier einspringt und die Freiheit der Person vorübergehend substitutiv
außer Kraft setzt – um des Überlebens willen. Aber auch nach solchen Einbrüchen sehen
wir wieder die Person in ihrer Verantwortung für sich selbst. Die interpersonalen Voraussetzungen der Ich-Bildung bzw. Selbstwert-Fassung
Narzissmus kann als Problem des nicht gefassten Selbstwertes verstanden werden. Sein Verständnis
verlangt Kenntnis der Ich-Bildung und des Personseins. Ein personal begründeter
Selbstwert ist Folge aus dieser Ich-Bildung und dem Person sein-Können.
Wer also bin ich, lautet unsere Frage. Wie kann ich wissen, wer ich bin, wie kann ich werden,
wer ich bin? – Um dies zu finden, bedarf der Mensch der anderen. Ohne die
anderen kann er das Gemeinsame und das Unterschiedliche nicht finden.
Er bedarf der anderen für drei grundlegende Erfahrungen, die für die Bildung des Ichs notwendig
sind: Der Beachtung, der Gerechtigkeit und der Wertschätzung durch andere. Formalen Bedingungen für die Ich-Bildung sind:
-Jeder Mensch braucht zuerst einmal Achtung und Beachtung seiner Grenzen, einen
Respekt vor dem, was das Seine ist, was seine Entscheidung, sein Wollen, sein
Wunsch, sein Ziel, sein Vorhaben ist, die Beachtung seiner Person somit, der Tatsache,
dass es ihn gibt als einen autonomen Menschen mit freiem Willen. Er bedarf der
Beachtung dessen, was seine Intimität ausmacht, der Beachtung schließlich von all
dem, worüber er persönlich selbst zu entscheiden hat und wo andere keinen Zutritt haben,
es sei denn, sie werden dazu eingeladen. Dazu gehört beispielsweise das Zugeständnis
eines physischen Raumes, um leben zu können (Wohnung, Zimmer, Bett), die
Beziehungen, ein Tagebuch, gehören Ansichten, Motivationen und Gefühle. Das heißt: Unter Achtung u. Achtsamkeit verstehen wir die Grundbedeutung des bewussten Wahrnehmens – unter Beachtung die Einhaltung des Wahrgenommenen. Es wird als maßgeblich für das eigene Handeln angesehen.
nicht, dass man sich nicht mit den anderen auseinandersetzen soll, aber weder Eltern,
Erzieher noch Geschwister dürfen diese Grenzen übertreten. Und wenn sie es tun,
wird die Grenze des Du verletzt. – Wie rücksichtslos wird hier oft vorgegangen in
Familien, in Schulen, in Gruppen! Besonders zerstörerisch ist aber jene Form der
Nichtbeachtung der Grenzen, wo durch Missbrauch der Beziehung oder durch Einsatz
von Macht bzw. Verführung Grenzen absichtlich verletzt werden und vom Eigenen
des anderen Besitz ergriffen wird, was im Falle von s.uellem oder emotionalem
Missbrauch meistens zu einer besonders tiefen Verletzung der Intimität führt.
- Die zweite Ich-Struktur bildende formale Bedingung liegt in der Gerechtigkeit für das
Eigene. Angemessen auf das Eigene einzugehen und mit ihm umzugehen, seine Bedeutung
anzuerkennen, auf seinen Inhalt zu schauen und diesen in seinem Wert zu
beurteilen, nicht abzuurteilen, nicht zu überschätzen, sondern dem anderen in seiner
Art und in seiner Eigenheit gerecht zu werden, das ist eine weitere wichtige Aufgabe
der interpersonalen Beziehungen. Jeder Mensch braucht eine Beurteilung nach seiner
Art und mit den gleichen Maßen wie die anderen beurteilt werden. Jeder weiß, wie
schmerzlich es ist, wenn man sich nicht gerecht behandelt fühlt, wenn man sich in seinem
Wert benachteiligt empfindet! Sich nicht gesehen fühlen von anderen, für eine
Absicht, für einen guten Willen lächerlich gemacht zu werden, eine Leistung als weniger
wertvoll beurteilt zu bekommen. Werden einem wichtige Personen nicht gerecht
oder wird man einer Person in wichtigen Dingen wiederholt nicht gerecht, kann man
darob irre werden in dem, was man selber ist und was einen ausmacht. Im selben Maße
kann auch die Überforderung einen Selbstwert-Stress erzeugen oder gar die Ich-
Strukturen schwächen, wenn z.B. auf den Reifegrad der Fähigkeiten in schulischen, beruflichen
oder in Beziehungsansprüchen nicht Bezug genommen wird. – Gerechtigkeit
bedeutet, sich zu dem, was einem gehört, in dem Maße, wie es einem zur Verfügung
steht, angemessen zu verhalten. Gerechtigkeit „gesteht jedem das Seine zu“, wie es
schon bei Vulpian im römischen Recht geheißen hat.
- Schließlich bedarf der Mensch zur vollen Entfaltung der Fähigkeiten und der Freiheit
des Ichs der Erfahrung der Wertschätzung durch andere, der Wertschätzung für sein
Sosein, also der Vermittlung, dass es gut und richtig ist, wie man letztlich ist und wie
man sich im großen und ganzen verhält, besonders wenn man wirklich aus sich selbst
heraus lebt und entscheidet. Dies ist ein besonders heikler Punkt in der Erziehung und
im gesellschaftlichen Miteinander, weil Wertschätzung in einer Familie oder Gruppe
oft für das gegeben wird, was für die Gruppe angenehm und förderlich ist. Das kann
den einzelnen leicht zu Anpassung und Funktionieren verleiten. Hier kann der Gruppenegoismus
oder der Egoismus der Erzieher bzw. Eltern erheblich zur Verbiegung beitragen.
Liegt dem Narzissmus Missbrauch zugrunde, so geschieht dieser typischerweise weniger durch Gewalt o.
Autorität, sondern meistens durch Verführung. Wenn sich jemand selbst- oder fremdschädigend verhält, kann sein „Sosein“ nicht geschätzt werden. Es ist wichtig, dass er das auch erfährt, um einen Impuls zu bekommen, sich zu ändern. Denn es ist zu vermuten, dass er in einer solchen Weise nicht sein echtes Sosein, das seinem Wesen entspricht, lebt, sondern ein unauthentisches, verfremdetes. Der Versuch eines anderen Menschen, dieses anzusprechen oder nach ihm Ausschau zu halten, kann befreiend für die eigene Selbstfindung sein.
Wir brauchen vom Du:
- Beachtung
- Gerechtigkeit
- Wertschätzung
Oder Schwächung der Ich-Strukturen beitragen, was z.B. geschieht, wenn es wichtiger
ist, ein „braves“ Kind zu haben, eine „liebe“ Tochter, einen „gehorsamen“ Sohn als
einen Menschen, der gelernt hat, auf seine eigene Stimmigkeit zu achten und nach ihr
zu leben.
Eine personale Wertschätzung des Soseins bezieht sich nicht auf die Eigenheiten und
Eigenarten, also auf das, wodurch man sich ein besonderes, eben „typisches“ Gepräge
gibt. Es geht vielmehr um den Respekt, die Achtung sowie Anerkennung für die
grundsätzliche Art des Seins und die Weise des Verhaltens. Die personale Wertschätzung
beruht daher auf einer Tiefensicht der Person. Sie bedarf im Grunde einer phänomenologischen
Haltung, in der das Wesen des Ichs in seinem Durchblick auf das
Person sein zum Vorschein kommt – nämlich der Respekt, das Ansehen, die Anerkennung,
die Beurteilung und der nach aller kritischen Prüfung letztlich tief empfundene
Wert von dem, was ein Mensch aus seiner Freiheit, aus seiner eigenen Stimmigkeit
und Ursprünglichkeit zu schöpfen vermag. Es ist der unbedingte Wert, den das Echte,
das Authentische, das zutiefst Eigene hat, das, was eine Person in ihrem Wollen, in ihrem
tiefen Fühlen und Spüren von dieser nie ganz fassbaren Schicht der Tiefenperson
zu fassen bekommen kann.
Diese drei Erfahrungsweisen von Seiten anderer führen die Person zu sich heran, legen den
„Ich-Keim“ durch das Du. Dynamisiert wird dieser Ich-Keim durch die Kontext-Erfahrungen
– d.h. durch den Zusammenhang, in den die Person eingebettet ist und um den es situativ
geht. Dies ist der existentielle Anspruch an die Person, den das Leben an sie heranträgt. Solche
existentiellen Kontexte sind konkret das Arbeits-, Beziehungs- und Entwicklungsgefüge,
das Anforderungen, Ansprüche und Angebote an das Individuum richtet. Was der Person von
außen zukommt, bereitet den Boden, schafft ein förderliches Klima, gibt Anregung, setzt Impulse,
erzeugt jenes induktive Feld, in welchem die Person die ich-bildenden Keime von außen
und innen zusammentragen kann. Was einem von außen zukommt, ist aber noch zu eigen
zu machen.
Sie setzt Beachtung, Gerechtigkeit und Beurteilung auch bei sich ein:
Die Beachtung führt zu einem Wahrnehmen der eigenen Grenzen und zu einem Distanzgewinn
sich selbst gegenüber. Ein wenig Abrücken von dem, was man anstrebt,
was einem wichtig ist, wie man fühlt und sich verhält, kurz: wie man spontan ist, sich
gibt, entscheidet, erlaubt einen Blick auf sich selbst. Ohne eine minimale Distanz zu
uns selbst können wir uns nicht sehen, können wir kein Bild von uns erhalten. Ohne
dieses Minimum an Selbstdistanz wissen wir nicht, wer wir sind. Wer wir sind mit unseren
Anlagen, unseren Bedürfnissen, unseren Fähigkeiten. Ohne dieses Minimum an
Distanz wissen wir nicht, wie uns die anderen sehen, wie wir auf sie wirken und was
auf sie so wirkt. Ohne dieses Minimum an Distanz bleiben wir uns fremd und bleiben
uns die anderen fremd in dem, wie sie mit uns umgehen. – Dieses Minimum an Distanz
können wir schon als ein-, zweijährige Kinder bekommen, indem wir hinsehen
oder angeleitet werden hinzusehen, was wir tun, was wir bewirkt haben, wodurch wir
dem anderen weh tun oder ihm Freude machen. Der Spiegel des anderen, der Blick
durch die Brille des anderen ist das beste Mittel, das Selbstbild zu begründen. Es bedarf
dazu des anderen – aber es genügt der andere nicht. Es bedarf ebenso uns selbst,
unseres Bemühens, uns zu sehen, unseres Mutes, uns so zu sehen, unserer Bescheidenheit
uns in unseren Grenzen zu nehmen. Der andere kann uns dafür Stütze sein,
aber nicht Ersatz, indem er uns darin bestärkt, hält, führt, dableibt – und trotz allem
mag.
Anerkennung und Gerechtigkeit stellen sich im Innenbezug vor allem als Bezugnahme
zu sich selbst dar. Dabei geht es darum, das herauszufinden, was sich im eigenen Fühlen
und Spüren als wichtig erweist, was einen beschäftigt und ergreift, was sich einem
selbst als wertvoll erweist. Das, was sich so einstellt, wird als das ganz Eigene, Ursprüngliche
empfunden. Sich selbst gerecht zu werden, verlangt diese innere Abstimmung
mit dem Eigenen. Dies bedeutet aber, dass der Mensch lernen muss, sich selbst in
dem ernst zu nehmen, was sich in ihm einstellt, sich nicht zu übergehen, das, was in
ihm aufbricht, gelten zu lassen und es aufzugreifen, es in der Nähe zu sich zu behalten
und mit ihm in Schwingung zu bleiben. Nur so kann er bei sich bleiben und eine Ich-
Kontinuität aufbauen. Eine solche Haltung der Offenheit sich selbst gegenüber, seinen
Gefühlen, Gedanken, Ängsten und Freuden, seiner Lust und seiner Trauer, seiner
Sehnsucht und seines Schmerzes begründet die Authentizität der Person. Ein solcher
Lebensstil hebt sie aus der Einsamkeit des Auf-sich-angewiesen-Seins in die Einheit
des Ganzen, in die Alleinheit, in der es gut möglich ist, „allein“ zu sein ohne verloren
zu gehen, weil man genügend Innenraum hat, um bei sich bleiben zu können. Ein solches
Verhalten kann vor sich selbst als gerechtfertigt empfunden werden, weil es dem
eigenen Wesen und Gewissen entspricht. Es erlaubt ein Leben im Gefühl, sich nicht
rechtfertigen zu müssen, weil man sich vor seiner eigenen, tiefsten Intimität gerechtfertigt
fühlt. Diese Rechtfertigung vor sich lässt das eigene Handeln auch vor den anderen
als gerechtfertigt erscheinen.
Ich Strukturen:
- Selbstwahrnehmung
- Sich gerecht werden
- Stellung nehmen zu sich
Eine personale Wertschätzung für sich selbst ist doppelt verankert: in der kritischen
Selbstbeurteilung und im Erspüren des Wertes des Personseins. Die Selbstbeurteilung
geschieht über eine bewusste Reflexion des eigenen Erlebens, Fühlens und Handelns.
Diese Beurteilungen, denen man sich selbst aussetzt, erlauben eine Stellungnahme zu
sich vor dem eigenen Gewissen und vor dem Über-Ich als dem Hüter der Werte des
Zusammenlebens. Dadurch wird zu dem, was einem wichtig ist und zu dem, was im
Grunde nicht zu einem gehört, Stellung bezogen. In letzter Instanz beruht die Wertschätzung
für sich aber auf einer nie ganz auslotbaren Tiefe, auf einem Gespür für den
Wert und das Geheimnis des eigenen Personseins. Dieses Gespür ist dem Menschen
zwar unmittelbar gegeben, wird aber durch all diese genannten Stufen hindurch ausgebaut,
verstärkt und dadurch erreichbarer. Es ist letztlich dieses Gespür sich selbst gegenüber, weil das, was in einem selbst entsteht u. wächst, als Ausdruck eines tieferen Geschehens verstanden wird.
Die Wertschätzung und das Gefühl, recht zu handeln, erlauben, dass man vor sich und vor
anderen bestehen kann, weil man sein Handeln selbst als richtig, gerecht, gerechtfertigt ansehen
kann. Das führt zu einer „Aufdoppelung“ des Ichs, zu einer inneren „Rückendeckung“,
was dem Ich Festigkeit verleiht. Zu wissen und zu spüren, dass es recht ist, was man
tut, verleiht der Person Stärke und Ausstrahlung, natürliche Autorität. So bei sich wohnend
braucht man sich für sich selbst nicht zu schämen. So kann man sich sehen lassen, so mag
man auch gesehen werden. Denn das integre Selbst-Wertgefühl geht einher mit der tiefen
Empfindung: das bin ich ganz. Weder Lob noch Kritik sind dann peinlich, weil man das
Positive an sich selbst erlebt und angenommen hat.
Trotz der heute weiten Verbreitung des Begriffs „gesunder Narzissmus“ ziehe ich die Bezeichnung
Selbstwert“ vor. Denn „Narzissmus“ steht für eine Störung, nämlich jene des Narkissos. Analog dazu werden die Begriffe Hysterie o. Depression auch nicht mit dem Adjetiv gesund belegt.
Sich in seinem Streben zu erkennen, bei sich zu bleiben und trotz aller Sackgassen und Fehlschläge
sich vor sich selbst bestehen zu lassen, stellt das innere Strukturelement der Ich-
Bildung und der Selbstwert-Begründung dar. Diese Haltung gibt den Blick frei für eine Tiefe,
die uns selten bewusst ist, die aber als Grundlage der Ich-Bildung und des Selbstwertes anzusehen
ist: das Person sein. Der tiefste Grund des Ichs: das Person sein.
Wenn wir an dieser Stelle eine Brücke zum Narzissmus schlagen, sehen wir, wie eng diese
Thematik mit dem Leiden und Suchen des Narzissmus zusammenhängt: Im Narzissmus geht es
um die Suche eben dieses Ichs, geht es um das, worin das Ich in seinem Wert begründet ist.
Wegen dieses vergeblichen Kreisens um die Ich-Thematik wirkt das narzisstische Verhalten so
egoistisch. Dieses „Wer bin ich? – Was ist an mir wertvoll?“ wird deshalb zum Leiden, weil
die Antwort nicht gefunden wird. Diese Wunde in einer der existentiellen Grundmotivationen
gibt keine Ruhe. Der Mensch kann ohne inneren Grund nicht zum Frieden kommen. Im Narzissmus
findet der Mensch den Ort nicht, wo es „Ich“ in ihm sagt, wo es aus ihm „Ich“ sagt.
1. SELBT-BEACHTUNG: Sich selbst wahrnehmen können, aufmerksam sein
können auf sich; verlangt SELBST-DISTANZ = zu sich auf Abstand
kommen können (z.B. Ruhe, Humor, Besinnung, Offenheit für Außensicht…)
Induktion: Beachtung des Daseins als Person und ihrer Grenzen
durch andere.
2. Sich GERECHT werden: sich in seinem Erleben, Fühlen, Denken, Verhalten so auf
sich abstimmen können, dass man den eigenen Inhalten und Werten gerecht
wird; verlangt ein sich ERNST NEHMEN = Beziehung zu sich
aufnehmen können, bei sich sein können; Ich-Kontinuität.
Induktion: Gerechtigkeit für das ganz Eigene durch andere erhalten.
3. WERTSCHÄTZUNG FÜR SICH: sich beurteilen und sich auf sich abstimmen
können; verlangt bewusste REFLEXION des eigenen Erlebens und Handelns = Stellungnahmen
zu sich treffen können, und ERSPÜREN der Tiefe des eigenen Personseins und sich abstimmen
mit dem Gewissen und mit den Werten der Gemeinschaft
führt dazu, sich als „richtig“ und „gerechtfertigt“ zu empfinden und vor anderen bestehen zu können.
Induktion: Kritische Beurteilung und Wertschätzung durch andere. Person-sei-können durch die Fassung im individuellen Ich.
So muss er gespannt und rastlos weitersuchen und sucht nach allem, was mit „Ich“ zu tun haben
könnte. Da er innen nichts findet, kann er sich nur in dem finden, was zum äußeren Teil
des Personseins gehört. Um diesen zentralen schmerzlichen Mangel im narzisstischen Leiden noch besser begreifen zu können, ist an dieser Stelle das Verhältnis von ICH und Person genauer zu besehen.
Person sein bedeutet, sein Ich aus der Tiefe leben zu können, ganz Ich zu sein, Ich-sein zu
können im ganzheitlichen Sinn. Obwohl sich das Person sein der Kontrolle und Verfügbarkeit
durch den Menschen entzieht, ist es gerade die Person, die dem Ich den Boden verleiht. Darum
ist die Person der „Grund“ des Ichs. „Person“ können wir daher auch als das bezeichnen,
was „Ich“ in mir sagt.
Wir erleben dieses Verhältnis von Ich und Person so, dass sich in der Mitte des Ichs eine Tiefe
auftut, aus der es in einem zu „sprechen“ beginnt. Es ist, als ob es in mir bei allem, was ich
tue, „Ich“ sagt. Aber nicht nur „Ich“ sagt es hier aus jener nicht weiter fassbaren Tiefe herauf,
auch anderes kommt uns hier entgegen, ein Spüren, ein Fühlen, Worte vielleicht. Dies alles
sagt es zu mir, taucht auf aus einer Unfasslichkeit, in der ich stehe, die mir zukommt wie ein
Grundwasser, unsichtbar, aber alles durchtränkend. „Es“ spricht zu mir – und ich bin es. Analog
dem Seinsgrund, der unter allem Sein ein Getragen sein vermittelt, und analog dem
Grundwert, der hinter allen Werten als Wert des Lebens erfahrbar wird, so stellt die Person
jenen Urgrund dar, aus dem das Ich seine geistige Kraft schöpft.
Was da in mir zu sprechen beginnt, stammt aus größerer
Tiefe und Weite, als ich zu fassen vermag ( „Es“ spricht in mir)
Ein „Sprechen“ im Menschen auf, das ihn meint und zu ihm spricht. Die Struktur, die dieses Sprechen
in Empfang nimmt, bezeichnen wir als das ICH
Wenn es der besseren Verständlichkeit halber erlaubt ist, die Person mit dem Grundwasser zu
vergleichen, so wäre das ICH die Fassung der Quelle, aus der das Wasser auftaucht in die
„Lichtung des Seins“ . Das Echte am Ich ist das, was das Individuum von
dieser Quelle (seinem Person sein) zu fassen bekommt - von dem, was gänzlich frei und unfassbar
jedem Menschen aus seiner Tiefe zufließt. Die Möglichkeit zu dieser Tiefe verleiht
dem Menschen Würde, wegen ihrer Unfasslichkeit können wir uns vor ihr eigentlich nur verneigen.
Der narzisstische Person-Verlust – Psychopathologie und Psychopathogenese
Narzissmus ist eine Störung, die sich auf dem Hintergrund dieser Beschreibung als mangelhafte
Entwicklung des Ichs verstehen lässt. Es fehlt die Ausbildung tragfähiger, griffiger Ich-
Strukturen, mit denen aus dem inneren Fließen des Personseins geschöpft werden kann. Darum
ist der Narzisst im Innern Ich-schwach; er „hat sich nicht“. Er weiß nicht, wer er ist, weil
er sein Person sein nicht fassen kann. Er weiß vor allem nicht, was er von sich schätzen kann,
weil er sein inneres Gegenüber nicht kennt. Sein Ich greift im Innenbezug ins Leere, greift,
um es in einem Bild zu verdeutlichen, mit beiden Armen nach dem Außenbezug, auch mit
jenem Arm, der den Innenbezug halten sollte. Der nach außen demonstrierten Ich-Stärke (wie
z.B. Überlegenheit, Arroganz, Abwertung) steht ein Verloren sein im Innern gegenüber.
Dies ist aus der (anthropologisch begründeten) Sicht der Existenzanalyse der Schlüssel zum
Verständnis des Narzissmus. Von dieser mangelhaften Ich-Funktion geht die ganze Symptomatik
und Psychopathologie aus. Gesunde Ich-Funktionen verleihen dem Ich eine Struktur,
die einen Zugang zum Person sein ermöglichen. Ich-Stärke ist dann die Fähigkeit, diese Ich-
Funktionen auch unter belastenden Situationen zum Einsatz bringen zu können. Vermittels
der Ich-Strukturen kann sich die Person mit all ihren Eigenschaften wie Offen sein für sich
und andere, Empathie, Gewissenhaftigkeit, Wissen dessen, was man selber will etc. zeigen.
Wie oben beschrieben, sind die interpersonalen Erfahrungen von Beachtung, Gerechtigkeit
und Wertschätzung, die uns von anderen entgegengebracht werden, ein entscheidender Faktor
für die Entwicklung, Ausbildung und Festigung dieser Ich-Fähigkeiten.
Die mangelhafte Ausbildung der Ich-Funktionen bzw. ein traumatischer Verlust bereits entwickelter
Ich-Funktion führt zu einem:
1. Grenzverlust und Selbstbildverlust, was Schwäche an innerlich verankerter Identität
und Autonomie bedeutet;
2. Verlust des Gefühls für das Eigene, was Mangel an Authentizität und Moralität bedeutet;
3. Verlust der Stellungnahme zu sich, was zu fehlender Ich-Festigkeit und mangelnder
Durchsetzungskraft (Autorität) führt.
Wie wirkt sich die Ich-Schwäche auf das innere Erleben aus? Durch das Defizit an Ich-
Strukturen – bildlich gesprochen: durch das Fehlen einer „Fassung der inneren Quelle“ – kann
die narzisstische Persönlichkeit am geistigen Fluss des eigenen Personseins wenig partizipieren.
Es spricht nicht in ihr. Innen ist es wie tot, leer. Es fließt ihr von innen nur ein kümmerliches,
geistiges Leben zu. Da in ihr kaum ein Fließen, schon gar nicht ein produktives Sprudeln
ist, gibt es für den narzisstischen Menschen auch kein Mit-sich-selber-sein-Können. Der
Innenbezug ist taub, unergiebig, trocken. Der innere Schoß bleibt unfruchtbar. „Ich hab mich
irgendwann gut zugemacht, und jetzt krieg ich mich nicht mehr auf“, klagt ein narzisstischer
Patient über sein Leiden. Gelingt es ihm, etwas hereinzubekommen, so bleibt es ihm nicht, er
kann es nicht halten.
Der Narzissmus ist ein Leiden an dieser Ich-Schwäche, das im Grunde mit einem großen
Schmerz verbunden ist, der aber oft aufgrund der Copingreaktionen (lange) nicht gefühlt wird.
Das narzisstische Leiden ist eine „leere Einsamkeit“, ist innere Taubheit, ein erschreckendes
sich Verlorengehen, wenn man sich nicht an äußeren Objekten oder inneren Phantasien identifizieren
und spiegeln kann. Der Zustand ist im Grunde unerträglich und äußerst schmerzlich,
so nicht bei sich ankommen zu können, so ausgestoßen zu sein, so sich nicht zu kennen, in
einer solchen Fremdheit mit dem intimsten Nächsten – man selbst – verharren zu müssen. Es
ist schlimm, mit allen Erfahrungen und allem Erleben innerlich so unbeantwortet zu bleiben,
so nichts zu hören zu bekommen von seinem „inneren Partner“, so einsam, unbegleitet, unangesprochen
ohne innere Tiefe und Widerhall zu sein. – In der Folge dieser Ich-Schwäche
kann der narzisstische Mensch nur schwer persönlich sein, so anregend und unterhaltsam er
sich auch geben mag. Und als Folge der inneren Leere entsteht ein ungezügelter Drang nach
intensivem Erleben, nach den stärksten Reizen. Diese sind für den Narzissten das Sich-selber-
Erleben im Spiegel seiner „Objekte“.
Wie kommt es zu dieser Störung der Ich-Funktionen? – Als Ursachen für die Entwicklung:
1. ererbte Anlagen (Disposition),
2. Üben, Lernen, Verstärkungen durch die Lebenserfahrung,
3. spezifische Defizite und Traumatisierungen.
Vererbung kann im Sinne einer Disposition oft als Grundlage für die Entwicklung einer narzisstischen
Persönlichkeitsstörung angenommen werden. Auf dieser Grundlage kann sich die
Lebenserfahrung rascher und leichter zu einem Trauma aufschaukeln, das von den spezifischen
Copingreaktionen begleitet wird, die typisch für das narzisstischen Verhalten sind.
Lebenserfahrungen, insbesondere spezifische, jahrelange, gleichartige Anforderungen durch
Lebensumstände können zum einseitigen Einsatz von Verhaltensweisen und Erlebnisweisen
führen, die ebenfalls – ohne dass eine angeborene Disposition bemerkbar wäre – zunehmend
eine narzisstische Entwicklung fördern, was z.B. bei Personen, die sehr viel und viel zu früh
im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen, mitunter zu beobachten ist.
Die spezifischen Defizite sind in interpersonale und intrapersonale zu gliedern. Wir haben
gesehen, dass es für die Ausbildung der Ich-Strukturen der Beachtung, Gerechtigkeit und
Wertschätzung durch andere Menschen bedarf.
Der Narzisst ist innerlich vertrocknet ohne Bezug zur eigenen Person.
Das Zuviel, das Zuwenig oder das Missbräuchliche in diesem spezifischen Bereich der Ausbildung
der Ich-Strukturen geschieht natürlich vor allem in den familiären Beziehungen. Es sind
oft überzogene Positionen, die diese Kinder bei einem Elternteil oder sehr häufig bei einem
Großelternteil haben. In unserem Verständnis zeichnet sich die Verführung als
der Motor für die Entstehung des Narzissmus ab – Verführungen durch Ich-Repräsentanzen
wie Ansehen, Wertschätzung, oder Verführungen durch besondere Positionen bei Erwachsenen,
durch unangemessenes Lob, das die Auseinandersetzung mit sich und die klärende Kritik
durch andere verdrängt. Dies führt zu einem mangelhaften Einsatz der Ich-Strukturen und in
der Folge zu dem beschriebenen Verlust an Person-Sein.
Um sich als Person vertiefen zu können, ist es unerlässlich, vorhandenem Leid standhalten zu
können. Denn Leiden bringt uns einerseits uns selber näher, indem es den inneren Zugang zur
Tiefe weitet, wie es uns andererseits aber auch ein wenig von uns zu lösen vermag. So vermag
uns das Leiden eine gewisse Distanz zu geben, die aber im Standhalten mit der Verinnerlichung
verbunden bleibt.
Die narzisstische Gegenreaktion:
Um einen solchen Verlust bzw. Mangel an Innerlichkeit überleben zu können und diesen unsäglichen
Schmerz der nichtgefundenen Individualität, des Nicht-personiert-Seins und des
ständigen geistigen „Sekkiert-Werdens überhaupt ertragen zu können und in dieser Einsamkeit
überleben zu können, schaltet sich die Psychodynamik ein, um vor unmittelbaren weiteren
Verletzungen zu schützen. Sie führt zu den typischen Reaktionsweisen narzisstischen
Verhaltens, wie beispielsweise:
1. das distanzierte Verhalten, das den Narzissten unnahbar und arrogant macht;
2. die Überkompensationen im Äußeren und Aktivismen wie z.B. die Geltungssucht;
3. sein Gefühl, immer zu kurz zu kommen, was ja durch das Fehlen des Innenbezugs
tatsächlich der Fall ist; dies macht ihn neidisch, eifersüchtig, und lässt ihn rivalisieren;
4. die Aggressionen reichen von Trotz über die häufige Form der Verärgerung („Warum
muss das ausgerechnet mir passieren?“) bis zum Zorn;
5. als Totstellreflexe stellen sich vor allem das (sich) Übergehen, Überhören und
Spalten ein.
Wie vermutlich bei allen Persönlichkeitsstörungen des Selbst scheinen auch hier die Aktivismen
(Punkt 2. und 3.) und Totstellreflexe (Punkt 5.) zu dominieren.
Neben und mit diesen psychischen Reaktionsmustern findet sich ein geistiger Bewältigungsversuch,
der sich in den obigen Ausführungen bereits abzeichnete. Die Personen entscheiden
sich auch für einen Lebensstil, lassen sich willentlich und oft mit Interesse auf die Außenbezüge
ein. Dem Menschen mit der narzisstischen Störung ist zwar der Innenbezug verschlossen,
aber es bleibt ihm doch der Außenbezug, dem er sich mit Interesse zuwenden kann.
Von ital. „secco“ – trocken; also im Sinne des „aufs Trockene laufen“ bzw. Ausgetrocknet-Werdens.
Alle Kraft, Aufmerksamkeit und Zuwendung, die dem gesunden Menschen für den Innenbezug
offen steht, wird nun gleichsam „nach außen“ geklappt und geht im Außenbezug auf, wie
oben bereits erwähnt. Damit schafft es der Mensch, intakte Fähigkeiten der Person verstärkt
und kompensatorisch zum Einsatz zu bringen. Was dem narzisstischen Menschen von innen
verwehrt ist, versucht er sich außen zu holen: Selbstbild, Selbststärke, Selbstwert, Wirkung.
Inhaltlich bieten sich ihm vor allem die Themen der zweiten Grundmotivation (Selbstwert
über idealisierende, „anhimmelnde“ Beziehungen; über den Versuch, es allen recht zu machen
usw.) und der vierten Grundmotivation an (Selbstwert durch sich einbinden in Strukturen,
Aufgabengebiete, Vereine usw.). Der Narzisst versucht mit äußeren Objekten, Identifikationen
und Symbolen die fehlende Ich-Struktur, das mangelhafte Sich-selbst-sein-Können zu
ersetzen. Darin liegt das spezifische Bewältigungsmuster des Narzissmus: das Nach-außen-
Gehen, das Ersetzen des Ichs durch Identifikationen, durch Objekte, die als Ich-
Repräsentanten dienen. Mit ihnen ist der narzisstische Mensch umgeben wie von einem Wall,
der ihm von außen den Halt zum Überleben gibt, ihn aber auch auf eine unnahbare Distanz zu
den anderen bringt.
Der Narzissmus lebt praktisch nur aus dem Außenbezug. Alles, was ihm gehört, alles womit er
sich identifiziert – sein Partner, seine Kinder, sein Beruf, seine Familie, sein Name, seine Automarke,
und die Reihe lässt sich beliebig erweitern, aber auch beliebig austauschen – hat für
ihn Überlebensbedeutung – hat für ihn höchste Bedeutsamkeit, weil es Ersatz ist für sein fehlendes
Ich. So lebt er aus der makellosen „Hübschheit“ seiner Partnerin, so lebt sie aus der
beruflichen Position oder dem gestählten Körper ihres Partners, darum wird im Beruf gelebt
und geht man ganz darin auf, darum wird so sehr auf den Schutz seines Eigentums, auf die
Anerkennung seiner Werte geachtet. Jede Kritik daran ist tödlich für den narzisstischen Menschen.
Sie löscht ihn aus. Jeder, der besser ist, mehr besitzt, erfolgreicher ist, bringt sein Ich in
Gefahr. Jedes eigene Versagen würde er als Selbstzerstörung empfinden und darf daher nicht
sein. Darum ist ein Versagen nie seine Schuld, sondern die der anderen; nur so kann er damit
zurechtkommen.
Dem Narzissten fehlt der Zugang zum „inneren Wasser“ des Personseins. Für ihn gibt es keine
wirkliche Authentizität. Er kennt seinen Eigenwert, sein Besonderes, sein Ich nicht, weil er
mit seinem Person sein nicht durchgängig in Berührung ist. Es stellt sich das Eigene in seinem
Erleben nicht ein, das Schöpfen in unverwechselbarer Art aus zuströmender Tiefe. Nur im
Äußeren kann er es suchen, den Selbstwert von anderen abzutrotzen versuchen, vor anderen
den Anspruch auf Besonderheit stellen, ohne dies wirklich begründen zu können, ja ohne zu
glauben, es begründen zu müssen. Da die Besonderheit des Ichs bei Narzissten nicht von innen
genährt ist, steigert sich die Bedürftigkeit grenzenlos ins Äußere, erreicht die Dimension des
Grandiosen. Heute kann diese Dynamik durch die „narzissogene Dro.“ Ekstasy auch noch
chemisch in idealer Weise gesteigert werden.
Warum Veränderungen in der Therapie des Narzissmus (der Persönlichkeitsstörungen insgesamt) so viel Zeit benötigen:
Weil subjektiv das Gefühl nicht so stark wird, das ein Defizit an Personalität da ist. – Andererseits erhalten die Persönlichkeitsstörungen durch den kompensatorischen Einsatz intakter Fähigkeiten eine größere Nähe zum (moralischen) Charakter, zu Lebensstil und Eigenverschulden
Der Narzisst ist umgeben von einem Wall von Objekten - sie ersetzen das ICH.
Psychopathogenetisch gesehen wird das Ich im Narzißmus substituiert durch das Selbst, der
fehlende Innenbezug ersetzt durch einen überstarken, übertriebenen Außenbezug. Das Tragische
daran ist, dass trotz des starken Außenbezugs keine Begegnungen mit anderen stattfinden.
Er hat den Zugang zu sich nicht und findet darum das Wesen des anderen nicht. Die Objekte
werden vereinnahmt, sie werden in Beschlag genommen, werden benützt, dienen als Ich-
Substitute und sind daher verzweckt, versachlicht, enteignet, dem Diktat des Bedürftigen unterworfen.
So wie der Narzisst sich selbst nicht hat, hat er keine Einfühlung in den anderen; so
wie er seinen eigenen Wert nicht fühlt, fühlt er den Wert des anderen nicht; so wie er sein
Inneres nicht respektiert, übersieht und übergeht er das Intime des anderen. Weil ihm das Eigene
fehlt, instrumentalisiert er das Selbst, denn er kann es nicht personifizieren nicht mit seiner
Person und seiner Innerlichkeit beseelen. Und so sind auch seine Beziehungen nicht beseelt,
ist sein ganzes Leben „unbeseelt“, einzig durchdrungen von dem Ringen nach dem tiefen
Wert, den das Person sein hat, und dem Schmerz des Ichs, das ihn nicht findet.
Und so liegt es auf einer Linie, dass er auch kein Mitgefühl für andere hat. Er kann eiskalt und
gewissenlos sein, weil er sich selbst nicht fühlt. Er ist rücksichtslos gegen andere, aber ebenso
gegen sich selbst, beutet sich aus für seine Ziele. Er liebt nicht sich, er liebt seinen Schein im
Glanz seiner Objekte. Was er dabei zu fühlen bekommt, ist natürlich nicht Liebe, sondern
Schutzverhalten der anderen. Er bezieht sich dabei nur auf das, was zum eigenen Selbstwert
beiträgt. Auch in der Liebe zum anderen liebt er nur das, was seinen Selbstwert erhöht. Treffend
ist dies in dem Witz karikiert, wo ein Pfau und ein Huhn zum Standesamt kommen, weil
sie heiraten möchten. Der Standesbeamte ist recht erstaunt über das ungleiche Paar und fragt
den Pfau, wie er denn zu seiner Frau käme. Der meinte voller Stolz: „Meine Frau und ich lieben
mich unsäglich.“ –
Weil alles dem Selbstwert dient, erzeugt natürlich Lob ein paradiesisches Gefühl. Im Lob hat
er das Gefühl, mit sich identisch zu sein. Für eine solche himmlische Bezogenheit, für ein
solches Gefühl, einmal fast ganz und vollständig zu sein, entwickelt sich ein Verlangen, das
die Charakteristika der Sucht hat. Doch jeder, der ihm den Platz an der Sonne, den Vorteil,
das Besondere streitig macht, macht ihn krank, macht ihn eifersüchtig, neidisch, macht ihn
zum Rivalen, wie wir oben schon gesehen haben. Durch den Mangel an Selbstwert ist der
narzisstische Mensch ständig auf seinen Vorteil bedacht, hat ein funktionales, benützendes
Verhalten. Solange sein Vorteil gewahrt bleibt, ist gut mit ihm zusammenzuarbeiten. Sonst
aber wird es schwierig, denn sein Wille ist unterdrückend. Es muss alles so gehen, wie er es
sich vorstellt. Trifft er auf Widerstand, geht er entweder auf Distanz und tut das, was er will,
heimlich und hinten herum, oder er bekämpft es, indem er rivalisiert und den anderen abwertet.
Eugen Roth hat dies so schlicht formuliert: „Ein Mensch – das trifft man gar nicht selten,
der selbst nichts ist, lässt auch nichts gelten.“
Person zu sein ist von unermesslichem Wert. Blind jedoch für diese intime Quelle in der eignen
Innerlichkeit sieht der narzisstische Mensch diesen Wert nur im Spiegel dessen, was ihm
wertvoll dünkt, was zu ihm gehört, was er besitzt, was durch ihn entsteht. So kann der narzisstische
Vater seiner Tochter vollen Ernstes sagen: „Ich liebe dich so sehr, weil ich in dir weiterlebe.“
Die größte Angst des Narzissten ist nach allem, was wir gesagt haben, der Verlust jener Objekte,
die für ihn das Leben bedeuten, weil sie ihm das Ich füllen. Seine größte Freude ist das,
was sein Ich stärkt, was ihn bestätigt in dem, was er sucht: eine wertvolle Person zu sein.
Der Narzisst kann nicht begegnen - kennt weder ICH noch DU
Anleitung zur Selbsteinschätzung besteht. Er bedarf der Person des Therapeuten, seiner Authentizität,
seiner Sachlichkeit, seines Erklärens und seiner Führung, die die kindlichen Anteile
der narzisstischen Persönlichkeit liebevoll, aber zugleich fest in eine erwachsene Haltung
überführen. Es sind dabei spezifische Elemente zu beachten, um diesen Prozess zu gewährleisten
und nicht einen vorzeitigen Abbruch zu provozieren. So ist unbedingte Wertschätzung
einzuhalten, ein großes Maß an Ernst nehmen erforderlich und es bedarf der persönlichen Beachtung.
Die hohen Fertigkeiten der narzisstischen Persönlichkeit sind zu nützen, indem man
ihn gleichsam als „Co-Therapeuten seiner selbst“ einsetzt. Wegen seines starken Schamgefühls
ist auf maximale Eigenständigkeit zu achten, um peinliche Gefühle zu ersparen. Schließlich
sind Tiefenarbeit und biographische Arbeit zur Verankerung der Therapie erforderlich.
Es ist eingestandenermaßen nicht immer leicht, zu diesem verkümmerten, kleinen, schmerzenden,
zitternden, verheimlichten, verstoßenen, unscheinbaren, „wahren Ich“ des Narzissten
vorzustoßen, seinen Grund zu erreichen, ihm Boden und Nahrung zu geben, ihm im Aufbau
und in der Entwicklung zu helfen, durch diese Ängste hindurch und an all den narzisstischen
Verführungen vorbei.
Verfasser:
Dr. med. Dr. phil. Alfried Längle
Uns trifft keine Schuld!
Gute Nacht
22.10.2014 20:56 •
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