@Petrosso Ich glaub nicht, dass man bei dir sofort mit einer „sozialen Phobie“ anfangen muss. Was du beschreibst, wirkt viel eher eine nachvollziehbare Nähe-Distanz-Problematik, die aus deiner Kindheit kommt. Du bist in einem Umfeld groß geworden, in dem deine Gefühle und Wünsche kaum eine Rolle gespielt haben, Nähe unsicher war und Distanz oft der einzige Schutz. Wenn man als Kind ständig damit beschäftigt ist, die Stimmung der Elternteile zu lesen, von denen mindestens einer noch autoritär und unberechenbar ist, lernt man automatisch: „Ich bin nur sicher, wenn ich niemanden brauche.“ Das ist ein Schutzmechanismus, kein Charakterproblem.
Man sieht bei dir sehr klar den inneren Widerspruch: Du sehnst dich nach ehrlicher, liebevoller Verbindung – gleichzeitig macht dir Nähe Angst, sobald es ernst wird. Da schaltet dein Hirn auf Alarm. Dann ziehst du dich zurück oder sendest distanzierende Signale, nicht weil du nicht willst, sondern weil dein System gelernt hat, dass Nähe gefährlich und unsicher sein kann. Dazu kommt deine übergroße Verantwortlichkeit anderer, vermutlich wegen einer schwachen Mutter: Du glaubst, du würdest anderen Menschen Arbeit machen, du würdest ihnen „etwas antun“, auch dein Körper und Grundbedürfnisse wären eine Zumutung, du müsstest alle schützen. Selbst wenn du erkennst, dass die Frauen sich das genauso wünschen.
Wenn du deinen Eltern gegenüber Grenzen setzt – und zwar, gesunde –, erleben sie das sofort als Angriff. Deine Eltern interpretieren deinen Rückzug nicht, wie er gemeint ist (Selbstschutz), sondern als Böswilligkeit weil sie selber mit Emotionen und Nähe nicht umgehen können. Was du über deinen Vater schreibst, ist das Muster eines Menschen, der kaum Empathie besitzt, für seine Launen keine Verantwortung übernehmen kann und Kritik immer als persönlichen Angriff versteht. Für solche Menschen ist jedes ehrliche Wort automatisch eine Verletzung, weil sie deine Gefühle nicht aushalten - weil sie ihre eigenen nicht aushalten. Ihr spiegelt euch also gegenseitig. Das sagt viel über sie aus, aber nichts über deine Absichten.
Auch dein Gedanke, die Therapie habe Bedürfnisse geweckt, ist völlig normal. Viele Menschen, die lange in emotionaler Isolation gelebt haben, waren nicht wirklich glücklich, sondern nur still. Therapie holt einen aus dieser abgestumpften Ruhe heraus und konfrontiert einen mit Gefühlen und Bedürfnissen, die man jahrelang unterdrückt hat. Dass sich das erst einmal schlechter anfühlt, heißt nicht, dass es falsch ist – es bedeutet nur, dass sich in dir etwas bewegt.
Wenn seine eigenen Wünsche als schlecht dargestellt werden, was bei dir von kleinauf wohl so war, nennt man das in der Psychologie übrigens Kastration. Es nimmt einem nämlich wirklich seine Lebenskraft, -Potenz und -Lust. Menschen werden dadurch sukzessive entmannt - oder entfraut, da bleibt dann nur ein bedürfnisloses Neutrom über - zumindest ist das das unbewusste Ziel. Aber auch das ist nicht deine Persönlichkeit, sondern ist nur einstudiert- kann man also wieder ablegen, wenn auch nicht vom einen Tag zum anderen. Geht aber absolut!
Du bist nicht boshaft, nicht undankbar, nicht manipulierend. Du bist ein Mensch, der gelernt hat, dass Nähe gefährlich und Distanz sicher ist. Wenn du heute Kontakt reduzierst, dann nicht, weil du deine Eltern bestrafen willst, sondern du versuchst, dich selbst zu schützen. Dass deine Eltern das nicht verstehen wollen, liegt an ihnen und ihren eigenen Prägungen, nicht an dir.
Die eigentliche Frage ist also nicht, wie du eine gute Beziehung zu deinen Eltern hinbekommst, sondern wie du eine gute Beziehung zu dir selbst aufbaust – und dann erst schauen kannst, was für deine Eltern überhaupt möglich ist. Vielleicht wird es irgendwann ein höflicher, distanzierter Kontakt, vielleicht bleibt es auch bei wenig Kontakt. Vielleicht sind sie auch in einem Prozess. Kann alles gesund sein. Wichtiger als Mama und Papa würde ich aber Beziehungen zu Gleichaltrigen werten, ist auch leichter, weil du dich da selbst neu erfinden kannst - und ihr kein Rucksackl mitschleppt. Denn ja, es gibt Menschen , für die du wertvoll bist, du kannst sogar der wichtigste Mensch für sie werden, der Partner, der beste Freund – und sie vor allem
auch für dich. Nicht trotz deiner Geschichte, sondern gerade weil du gelernt hast, so feinfühlig zu sein. Nur mit dir selber wäre jetzt endlich auch mal wichtig und gesund. Alles Gute!