Hi Liva!
Ich schreibe Dir hier, weil Du mich selbst vor einiger Zeit zur Diskussion hier eingeladen hast. Und ich mir einbilde, etwas beitragen zu können.
Mich überrascht es (eigentlich nicht), wie sehr Du Dich quälst und leidest. Du bist eine ausgesprochen kluge und reflektierte Frau, die den Gesamtkontext ihrer Problematik genau überblickt und einschätzen kann. Und trotzdem lässt Du Dich von ihm und der Situation überwältigen, schilderst Dich als verzweifeltes Opfer, das sich nicht recht zu wehren weiß.
Ich führe mal einige Punkte auf, die mir bedeutsam erscheinen:
- Du schilderst ihn als einen Psychopathen
- seine Beziehung zu Dir ist geprägt von S/M
- er spielt mit Dir, ist übergriffig
- Du hast eine irre Wut auf ihn
- Du willst Rache an ihm nehmen
- Dein Alltagsleben ist durch seine Nähe .....hm...mehr als stressig
- Du bist von ihm vereinnahmt
- diese Aufzählung ist längst nicht vollständig
Ich mache jetzt mal eine Setzung: Du selbst bist Dein Problem! Und Du stellst es für Dich als Partnerproblem dar. Aber anstatt eine Lösung Deines Zwiespaltes erreichst Du nur, dass Du Dein Problem nur kreisförmig durchlebst, anstatt es zu bearbeiten.
Dir ist selbst klar, mit einem solchen Menschen ist keine gesunde Beziehung möglich. Du musst Dich einfach von ihm fern halten. Jede Begegnung aktiviert nur wieder Deinen inneren Gedankenkreislauf. Ich gebe zu, so wie Du es schilderst, ist eine Begegnung kaum vermeidbar, Du kannst Deinem Problem nicht ausweichen.
Dir ist klar, mit diesem Menschen ist ein normaler Umgang nicht möglich. Dann lass es! Kein freundliches Guten Tag beim Begegnen auf der Strasse. Jede Begegnung reisst alle Wunden wieder auf! Jede Verletzung, Kränkung und Erniedrigung kommen wieder ins Bewusstsein. Vielleicht auch Angst?
Das muss aufhören! Da musst Du instrumentell gegen vorgehen. Vielleicht auch mit Hilfe von Freunden, die Dich dabei unterstützen.
Und nein, Rache ist nicht! Du weisst selbst, das sind Gedanken, die aus Hilflosigkeit geboren sind. Sie gehören zum Kreislauf der misslingenden Problembewältigung. Ihn treffen kannst Du nicht! Selbst Rache bindet Dich an ihn. Lässt Dich nicht Dein Problem dort bearbeiten, wo es wirklich ist, in Deinem Inneren. Insofern musst Du es schon erreichen, Begegnungen mit ihm zu vermeiden.
Und diesem Chaos an Gefühlen, Empfindungen, Wünschen und Hoffnungen und Ängsten in Deinem Inneren musst Du Dich stellen, wenn es Dir gelingen soll, das Du eine andere Art von Partnerbeziehung - mit einem anderen Menschen - leben willst.
Du musst Dir die Frage stellen, was ihn für Dich so attraktiv macht, weshalb er eine solche Macht über Dich bekommen hat. Denn das ist Dein Werk. Du hast es ihm in die Hand gegeben.
Welches Spiel spielst Du selbst? Was musst Du da immer wieder neu inszenieren?
Warum musst Du Dich an einen kalten, gefühllosen Schurken verlieren, der so feindlich mit Dir umgeht? Und dann einerseits Hass in Dir auslöst, und andererseits Ohnmacht, Hilflosigkeit und Leid und Trauer. Und Wut auf Dich selbst wegen Deiner Schwäche, Kleinheit und Hilflosigkeit - Deiner Nichtswürdigkeit!
Du kennst eigentlich das ganze Geheimnis Deiner Verstrickung mit ihm: Du brauchst ihn, weil Du sonst alle abwertenden Gedanken und Gefühle, die Du selbst Dir gegenüber empfindest, auch selbst in Dir ausagieren müsstest. Die Zerrissenheit Deiner eigenen Persönlichkeit kannst Du über ihn als ein Verhältnis zweier Personen darstellen, was eigentlich ein innerpsychischer Konflikt ist. Mit dem positiven Zweck: Du selbst bist halt nur Opfer, kannst nichts tun gegen diesen rohen Klotz. Du bist mit Dir identisch, alles Schlechte kommt von aussen, da kannst Du halt nichts gegen tun. Aber Du bist mit Dir im Reinen, Du kannst Dich eindeutig positionieren.
Schlecht ist daran, dass Du damit den (Deinen) Zustand festschreibst. Da Du diese negativen Anteile in Dir externalisierst, gibst Du auch Deine Gestaltungsmöglichkeit in diesem Zusammenhang auf. Du versperrst Dir selbst den Weg zur Überwindung Deiner Zerrissenheit. Denn er ist ja (scheinbar) das Problem.
Mir fällt es sehr schwer, Dir überhaupt und mehr zu schreiben, obwohl ich das Bedürfnis habe, Dir zu schreiben, Dir zu helfen, Dich zu unterstützen. Ich werde auch zunehmend ausschweifender, was meinen Text nicht genießbarer macht. Ich schreibe trotzdem weiter.
Psychoanalytische Ansätze hätten viel Hilfreiches zur Lösung Deines Problems anzubieten, speziell Beiträge von Alice Miller (obwohl ich die Stossrichtung ihrer zentralen Argumentation für absolut falsch halte), die versuchen aufzuzeigen, wie eng der Zusammenhang von Selbsthass, Bestrafungslust und einer ganzen Reihe von unguten Betrachtungen über die Menschen, mit der Erzeugung eines gut funktionierenden zivilisierten Mitteleuropäers durch seine Sozialisation weg von einem Bündel an Fähigkeiten, Fertigkeiten, Lust, Lebensfreude, Entdecker- und Gestaltungswillen, das sich in seiner Welt ausleben möchte und seine ganze Freude und Kraft dieser Umwelt zukommen lassen möchte, und mit der gleichen Hingabe geliebt und angenommen werden möchte, hin zu jemandem, der tut, was ihm aufgetragen wird.
Hier wäre die Befreiung zu suchen. Hier liegt die wirkliche Emanzipation. Hier würdest Du merken, dass Du gegen Deine eigene Zurichtung rebellierst. Dass Du aber immer wieder zugleich - im Kampf gegen diesen Menschen - Deine Niederlage mitinszenierst. Hier würde man erst zum Menschen. Und da Du zeigst, dass Du in Deinem Leid noch nicht resigniert hast, hast Du das Potential noch in Dir, zu Dir selbst zu kommen, Dich zu befreien. Von einem solchen Menschen, von den falschen Vorstellungen über Dich selbst und wie sie sich bei Dir einnisten konnten und von Deinen Ängsten. Und ich glaube, es lohnt sich! Für Dich!
Mit freundlichen Grüßen
der alte
07.10.2015 10:09 •
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