@prisma
Was für mich Narzissmus ist? Im Grunde genommen werden darunter ganz allgemeine menschliche Anlagen verstanden, die allerdings da und dort mehr oder weniger übertrieben sind. Jeder Mensch ist etwa egoistisch, betont gerne seine Besonderheiten (ob gute oder schlechte), ist manchmal ängstlich in bestimmten Situationen, während er sich in anderen vielleicht hervortut usw. Am Narzissmus ist also nichs, das nicht an und in jedem Menschen wäre, wenn auch manches jedoch viel deutlicher, einseitiger, ohne nennenswertes Gegengewicht ausgeprägt ist. Wozu man noch sagen muß, daß alle diese besonderen Eigenschaften bzw. ihre Ausartung ja durchaus hochgezüchtet werden. Das fängt schon in der Schule an - oder teilweise noch früher, wenn das Kind etwa gefeiert wird wie ein Olympiasieger, wenn es das erste Mal ins Töpfchen macht. Oder wenn echte, natürlich vorhandene Bedürfnisse und Begabungen ignoriert, aufgezwungene hingegen über die Maßen gefördert und gelobt werden. Das allein führt schon zu dieser Denaturierung mit einer Selektion eben jener Eigenschaften, die dann als narzisstisch bezeichnet werden.
Und ja, ich halte es für vollkommen falsch, einfach verschiedene Eigenschaften, die - wenn auch in ausgeglichenerer Form - jeder hat, unter Narzissmus zu subsummieren. Denn das verstellt nur den Blick auf jene Eigenschaften, die jemand in dieser überhöhten Form aufweist. Nicht jeder etwa, der ehrgeizig ist, muß zugleich empathielos sein; nicht jeder, der ein Egomane ist, muß zugleich ein schlechter Zuhörer und Ignorant sein, nicht jeder, der ein Versager ist, muß zugleich unintelligent sein, usw. Diese Etikettierung erscheint mir nicht nur wertlos, sondern verwässert die Dinge nur, weil man einem Narzissten natürlich viel mehr unterstellt als etwa einem bloßen Egomanen. Man braucht sich ja nur anzusehen, was alles bereits als Symptom für Narzissmus gilt, vom hellblau gefärbten Haar bis zum Kaffeetrinken. Und das halte ich für lächerlich.
Sondern worum es geht, ist, die tatsächlich vorhandenen auffälligen Eigenheiten, so sie problematisch sind, zu sehen und eventuell, so weit möglich, zu korrigieren oder auf eine andere, nicht-destruktive Ebene zu bringen. Bei Narzissmus denkt man sich ja noch 20 andere Eigenheiten hinzu und erachtet sie als Symptom, auch wenn sie durchaus normal ausgeprägt sind. Wenn jemand, den man als normal erachtet, dann und wann ein paar Gläschen Wein trinkt, wird daran nichts Auffälliges sein - macht dasselbe aber jemand, der als Narzisst gilt, ist es ein weiteres typisches Symptom.
Jedenfalls wird man auf diese Weise nicht weiterkommen, wenn man sich nicht einzelnen Eigenschaftet widmet, die übertrieben ausgeprägt sind, sondern einfach dem Narzissmus.
Du schreibst ja selber: . wenn ich nicht ehrlich genug sein kann zu sagen, ich bin ein Narzisst, dann würde ich mich selber verleugnen. Das richtet doch unweigerlich Deine Aufmerksamkeit auf das Thema Narzissmus schlechthin - und nicht, was ich eben für weitaus sinnvoller hielte, auf ganz bestimmte Eigenheiten und Eigenschaften, die es vielleicht zu ändern gilt. Meinetwegen Perfektionismus, Egoismus, Lieblosigkeit, mangelndes Selbstbewußtsein oder was auch immer. Alles das ließe sich nämlich nach und nach durchaus verändern, während man diesem Schlagwort Narzissmus ja völlig hilf- und planlos gegenübersteht. Man kann war sagen: Ich bin ein Narzisst - aber was hat man von dieser Erkenntnis? Das ist ja lediglich eine - populärpsychologische - Feststellung.
Nicht übersehen darf man auch, daß es ja eine Wechselbeziehung gibt zwischen Narzissmus und sozialer Umgebung. Würde man einen Narzissten (wenn man schon bei diesem Begriff bleiben will) zwei Jahre meinetwegen zu den Hopi-Indianern oder nach Nepal verpflanzen, wäre es mit dem Narzissmus auch bald vorbei, weil in diesen Kulturen all das, was wir unter narzisstisch verstehen, ganz anders wahrgenommen werden würde, eine völlig andere Bedeutung hätte, unpassend, lächerlich, kurios wäre, natürlich auch ganz andere Reaktionen von seiten der Umwelt hervorrufen würde. Man darf hier nie die Resonanzen übersehen, die narzisstischen Verhalten hervorruft und das narzisstische Verhalten oft sogar noch verstärkt. Diese hohle, erfolgsorientierte, gefühlsarme, blindlings herumrempelnde Ellbogengesellschaft ist ja durchaus nichts anderes als das soziale Abbild dessen, was man unter Narzissmus versteht. Beim Einzelnen heißt es halt (um es österreichisch zu sagen): ICH bin ICH!, in der Herde: MIR san MIR! (was soviel heißt wie: Wir sind wir).
Man kann ja fast sagen: Wollte man wirklich unnarzisstisch werden, müßte man großteils aus dieser Gesellschaft, aus diesem Brutschrank des Narzissmus aussteigen.
Daß es etwas mit dem verletzten, ungeliebten (oder aber auch vergötterten) Kind zu tun hat, ist sicher richtig. Vor allem: Das narzisstische Verhalten nährt sich aus der damals geprägten emotionalen Situation, die sich seither nicht verändert, sich nicht mehr entwickelt hat, so daß der Betreffende emotional gesehen ein Kleinkind bleibt. Alles, was dann später an narzisstischem Verhalten auftritt, ist gleichsam der Versuch, zu einem emotionalen Ausgleich zu kommen, was aber gerade dieses Verhalten verhindert, das eben entweder übergriffig, machtbesessen, intolerant, höchst verletztlich oder unterwürfig, kriecherisch, ängstlich in Erscheinung tritt.
Bei dem Löwen-Vergleich, den ich nun verstanden habe, würde ich sagen, metaphorisch gesehen, daß jemand mit Selbstbewußtsein zumindest ruhig reagiert, sich das entsprechende Problem erst einmal genauer ansieht und dann Entscheidungen trifft. Man muß sich weder gleich einmal dem Gefressenwerden hingeben, noch muß man gleich selber fressen - diese Instinktreaktionen Flucht, Totstellen, Angriff sind nur dort sinnvoll, wo es wirklich um eine plötzliche, lebensbedrohliche Situation geht. Denn wenn man dabei - etwa wenn ein Auto auf einen zurast - erst einmal ruhig überlegt, ehe man eine Entscheidung trifft, könnte das fatal enden. Aber solche Situationen, in denen man tatsächlich gezwungenermaßen sofort reagieren muß, kommen vergleichsweise sehr selten vor. Viel öfter ist es so, daß bei allen möglichen Gelegenheiten die Emotionen einschießen und man sich davon gleich überwältigen und zu Reaktionen hinreißen läßt, weil eben oft das Selbstbewußtsein zu gering ausgeprägt oder lediglich eine Kompensation des Mangels ist und dadurch die Empfindlichkeit mehr oder weniger stark überhöht ist. Um noch einen tierischen Vergleich zu bringen: Manche erstarren vor einer Kobra, andere schon vor einem Regenwurm.
Also soviel ich weiß besteht über die Plastizität des Gehirns heute kein Zweifel mehr. Es zeigt sich immer wieder, daß Menschen, deren Lebenssituation sich plötzlich drastisch ändert, etwa durch einen Unfall, sich auch wesensmäßig ganz merklich verändern, oftmals durchaus in einem positiven Sinn. Sogar bei Wachkomapatienten läßt sich dies nachweisen.
Wenn man also das Richtige gezielt trainiert, dann führt das durchaus zu tatsächlichen Veränderungen - nicht nur des Verhaltens, sondern auch des Wesens und damit auch zu anderen Erfahrungen (zudem zu einer anderen Beurteilung von Erfahrungen - ganz entscheidend ist ja immer: Worauf lenke ich meine Aufmerksamkeit und welche Bedeutung messe ich etwas zu).
Vielleicht versuchst Du es ja einmal und läßt die Stühle ungeordnet am Tisch stehen, läßt die Laden offen usw. Wenn Dich etwas massiv stört, das ja nicht etwa gefährlich ist oder das Leben tatsächlich beeinträchtigt, dann lasse das einfach einmal auf Dich wirken, ohne gleich ordnerisch darauf zu reagieren. So unbedeutend es erscheinen mag: aber genau auf diese Weise trainiert man sein Gehirn.
Wer dieser Gehirnforscher war, weiß ich leider nicht mehr. Das ist schon länger her. Jedenfalls war es eine - durchaus fundierte, wissenschaftliche - Doku über das Gehirn in Zusammenhang mit Verbrechen.