The last -
Bitte versuchen Sie, sich vorzustellen, kein Gewissen zu haben. Sie haben nicht die geringste Spur eines Gewissens und keine Gefühle von Schuld oder Reue – ganz egal, was Sie anstellen, plagen sie. Keine lästigen Skrupel über das Wohlbefinden von Fremden, Freunden oder Verwandten. Stellen Sie sich vor,es gäbe kein leidiges Hadern mit ihrem Schamgefühl, kein einziges Mal in ihrem ganzen Leben, unabhängig davon, ob Sie sich egoistisch, faul, rücksichtslos oder unmoralisch verhalten. Und stellen Sie sich weiterhin vor, dass der Begriff „Verantwortung“ ihnen fremd wäre, außer vielleicht als Bürde, die anderen Menschen offenbar wie gutmütige Trottel blind auf sich nehmen. Und nun erweitern Sie dieses seltsame Gedankenspiel um die Fähigkeit, Ihre so überaus sonderbare psychische Disposition vor anderen Menschen zu verbergen. Da jedermann wie selbstverständlich annimmt, dass das Gewissen eine universelle menschliche Qualität ist, fällt es Ihnen leicht, zu verheimlichen, dass Sie kein Gewissen haben. Kein Schuld-oder Schamgefühl hemmt die Erfüllungen Ihrer Wünsche, und Sie werden von niemandem wegen Ihrer Gefühlskälte zur Rede gestellt. Die eisige Flüssigkeit, die in Ihren Adern fließt, ist so fremdartig, so abseits normaler menschlicher Erfahrungen, dass kaum ein Mensch der Verdacht kommt, dass mit Ihnen etwas nicht stimmen könnte.
Mit anderen Worten: Sie sind völlig frei von internen Kontrollen, und Ihre ungehemmte Freiheit, ohne Skrupel alles das zu tun, was sie wollen, ist bequemerweise für den Rest der Welt nicht erkennbar. Sie können tun, was sie wollen – und doch wird Ihr geheimnisvoller Vorteil vor den meisten Ihrer Mitmenschen, die durch ein Gewissen gelenkt werden, sehr wahrscheinlich verborgen bleiben.
Wie werden Sie ihr Leben führen? Wie werden Sie Ihr Ihren gewaltigen, heimlichen Vorteil nutzen, angesichts der korrespondierenden Schwächen der anderen Menschen (dem Gewissen)?
Nie bedrückt Sie das panische Gefühl eines schlechten Gewissens oder lässt Sie mitten in der Nacht hochschrecken. Trotz Ihres Müßiggangs sind Ihnen Gefühle von Verantwortungslosigkeit, Nachlässigkeit oder Peinlichkeit völlig fremd, wenn Sie auch gelegentlich um des schönen Scheins willen solche Gefühle vortäuschen. Wenn Sie zum Beispiel ein guter Beobachter von Menschen und Ihren Reaktionen sind, können Sie ein bekümmertes Gesicht aufsetzten und behaupten, Sie würden sich für Ihren Lebenswandel schämen, und davon sprechen, wie schlecht sie sich fühlen. Das tun sie aber nur, weil es bequemer für Sie ist.
Sie stellen fest, dass Menschen, die ein Gewissen haben, sich Schuldig fühlen, wenn Sie jemandem Vorhaltungen machen, den sie für „depressiv“ oder „gestört“ halten. Tatsächlich fühlt man sich oft – zu Ihrem vorsätzlichen Vorteil – verpflichtet, einer solchen Person zu helfen.
Ich vertraue darauf, das die Vorstellung, ein solcher Mensch zu sein, Ihnen völlig verrückt vorkommt, denn solche Menschen sind verrückt – und zwar gefährlich verrückt. Verrückt – aber real - es gibt sogar eine Bezeichnung für sie. Viele Psychologen bezeichnen das partielle oder völlig Fehlen eines Gewissens als „antisoziale Persönlichkeitsstörung“. Dabei handelt es sich um eine unheilbare Deformation des Charakters, von dem nach heutigem Wissenstand wahrscheinlich 4% der Bevölkerung betroffen sind.
Menschen ohne ein Gewissen erleben Gefühle sehr viel anders als Sie oder ich, und Liebe können sie überhaupt nicht fühlen – oder eine beliebige andere positive Bindung zu ihren Mitmenschen. Dieses Defizit, das nur schwer zu verstehen ist,reduziert das Leben auf ein endloses Spiel versuchter Dominanz über andere Menschen.
Das Gewissen stiftet Sinn. Als ein Gefühl der Einschränkung, das in unserem emotionalen Bindungen untereinander verwurzelt ist, verhindert es, dass das Leben zu nichts als einem endlosen und eigentlich langweiligen Spiel des Strebens nach Dominanz über unsere Mitmenschen degeneriert. Für jede Einschränkung,die das Gewissen uns auferlegt, gibt es uns einen Moment der Verbundenheit mit einem Anderen, ein Brückenschlag zu einem Menschen oder Ding jenseits unserer oft bedeutungslosen Aktivitäten.
Auf die ein oder andere Weise ist ein Leben ohne Gewissen ein gescheitertes Leben. Diejenigen unter uns, die lieben und ein Gewissen besitzen, haben wirklich großes Glück,selbst im alltäglichen Leben von Arbeit, Reflexartigem Geben und Nehmen und kleinen Freuden.
Soziopathie und Narzissmus unterscheiden sich nur in sofern – das der Soziopath überhaupt nicht unter sich selber leidet – der Narzisst aber wenigstens unter der inneren Leere. Das ist auch der Grund, warum Narzissten manchmal doch in Therapie gehen – weil sie eben „unter sich“ selber leiden!
Aus „der Soziopath von Nebenan“
von Martha Stout, praktizierende Psychologin und Dozentin der Harvard Medica School.
23.04.2013 10:47 •
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