Zitat von Pfeifchen: So ist das. Wie gesagt, ob das nun Trauma ist oder was anderes, ist mir eigentlich gleich. Es gibt viele wesentlich schlimmere Schicksale und ich will mir nichts anmaßen. Trotzdem prägt es mich und belastet.
Ja, es gibt wesentlich schwerere Schicksale, also stell Dich nicht so an und halte den Kopf schön oben. Nichts hören, nichts sehen, nichts an sich ranlassen. Stattdessen Stärke zeigen, unproblematisch sein, angepasst und mit einem harten Selbstbild ausgestattet. Andere lassen sich hängen und leiden - ich nicht. Ich stehe drüber. Unangenehme Gefühle - weg damit, kann ich nicht brauchen. Ich will nur positive Gefühle spüren.
Wesentlich schlimmere Schicksale? Klar, Du hast keinen Hunger, keinen Durst, Du hast Kleidung, eine Wohnung, eine Heizung. Warum also jammern? Bringt ja nichts.
Mit der Aussage relativierst Du das was Dir widerfahren ist und das ist grausam und zu viel für eine empfindsame Kinderseele. Papa weg, einfach so. Aha, so schnell geht das.
Das bedeutet doch dass Deine Welt aus den Fugen geraten ist und dass Du versucht hast Dir selbst zu helfen. Durch innere Distanz (aha, so ist das also), so als ob Du nicht mitten drin wärst und beteiligt, sondern nur Zuschauerin. Du hast es abgespaltet. Das ist ein Hilfsmechanismus der Seele, denn die verkraftet das alles nicht. Und hilft sich durch das momentane Abspalten. Kann man lange machen, aber irgendwann bricht es oft doch raus und kommt hervor und man ist verwirrt, überfordert, weil die altbekannten Mechanismen nicht mehr greifen.
Und auf einmal kommt eins zum anderen. Immer wieder neue Erinnerungen, neue Erkenntnisse und Du ziehst Dich selbst in Zweifel. Bin das wirklich ich oder ist das alles nur Konditionierung, die man mir beigebracht hat?
Ich habe eine Freundin, die zwei wesentlich ältere Schwestern hatte. Mit der mittleren Schwester war sie besonders eng, denn die hätschelte und pätschelte das kleine Rehlein besonders. Spielte mit ihm, sah es größer werden, sah, wie es laufen lernte und holte es später oft vom Kindergarten ab. Das Rehlein und die größere Schwester, die vielleicht an die 10 Jahre auseinander waren, hatten eine sehr enge und liebevolle Beziehung.
Eines Tages waren die zwei älteren Schwestern auf einer Veranstaltung in einem Dorf, das ca. 10 km entfernt vom Wohnort lag. Sie gingen zu Fuß hin und zu Fuß zurück. Es war bereits etwas dunkel, aber sie hatten einen schönen Abend gehabt. Bis zu dem Zeitpunkt, zu dem das Auto auftauchte, praktisch aus dem Nichts. Die Gruppe ging am Straßenrand, das Auto nähert sich und das Unfassbare geschieht. Es fährt in dei Fußgängergruppe - 5 junge Menschen wurden tot gefahren, einige verletzt.
Nur weil irgend ein betrunkener Idiot noch Auto fahren musste .... An der Unfallstelle steht ein kleines Denkmal in Form einer Brücke mit Pfeilern. Und auf den Pfeilern stehen die Namen der Opfer und das Todesdatum.
Die Eltern des Rehleins wohnten in der Nähe einer Ausfallstraße und auf einmal wurde es laut und hörte nicht mehr auf. Tatü, tata, Polizei, Krankenwägen, Feuerwehr. Das Rehlein zu Hause hört es und sagt zu den Eltern: Jetzt ist der Margit was passiert.
Später, irgendwann steht die Polizei vor der Tür und man mag es sich nicht vorstellen. Die ältere Tochter nur verletzt, die jüngere tot.
Das Rehlein kann sich heute an sehr viele Dinge nicht mehr erinnern. Es war damals 6 Jahre alt. Nur dass es bedrückend war und dass es irgendwie weg war, zu Bekannten oder Verwandten weggegeben zur Aufbewahrung, bis die Beerdigung vorbei war. Das Rehlein weiß nicht, ob es bei der Beerdigung war, aber es mag heute keine Friedhöfe und keine schwarze Kleidung.
Das Rehlein lebte nun ohne die Schwester und es lachte viel und gern.
Schon in der Schulzeit fiel mir das Lachen des Rehleins auf, das auch mal lachte über Dinge, die ich gar nicht lustig fand. Teilweise war es sogar manchmal nervig, denn ich verstand es nicht. Heute begreife ich es, als das Rehlein mir irgendwann die Geschichte erzählte. Das Rehlein fühlte sich in der Pflicht zu Hause in diesem Trauerhaus mit der niedergeschlagenen Mutter für Heiterkeit zu sorgen. Es ergab sich ganz automatisch, denn das Rehlein wollte eine fröhliche und glückliche Familie spüren. Der Erfolg war wohl eher mäßig. Nur manchmal sagte das Rehlein: Heute war ein guter Tag, denn Mutter hat heute sogar mal gelacht.
Und Margit? Wurde vom Rehlein vergessen. Viel später fragten und sagten die Eltern: Kannst Du Dich denn nicht erinnern dass Margit Dich ständig durch die Gegend schleppte und viel Zeit mir Dir verbrachte?
Nein, das Rehlein konnte sich nicht erinnern und auch heute ist vieles allenfalls verschwommen da.
Auch hier ging die Seele den Weg der Verdrängung, des Vergessens. Denn das Unglück war nicht tragbar und dennoch musste das Rehlein weiter leben und das wollte es auch. Also war es so, als hätte es Margit nie gegeben.
Das Rehlein machte Abitur, studierte Lehramt, bekam drei Kinder von einem seltsamen Mann. Die Ehe scheiterte nach ca. 20 Jahren, aber tot war sie vorher schon. Denn das Famiilinmodell, Mutter gluckt mit den Kindern zusammen und der Mann steht irgendwo daneben und im Abseits, funktioniert halt nicht auf Dauer.
Der Mann suchte sich eine Freundin und zog dann einfach ins nächste Nest zur Freudin. Zu seinen Kindern hatte er dann wenig Kontakt, insbesondere zur Ältesten, der Tochter. Denn die wollte mit ihrem Vater reden bzw. er sollte mit ihr reden. Tat er nicht. Sie wartete lange und begriff nach ihrem supergutem Abitur, dass ihr Vater eben weg war und eher desinteressiert. Das schmerzt.
Die Tochter ging zum Auslandsstudium nach Schottland. Das wollte sie und sie nahm ihren Morbus Crohn mit. Um Weihnachten rum war das Rehlein mit den zwei Söhnen auf Besuch in Schottland und die Tochter war etwas kraftlos und noch dünner geworden. Ein neuer Schub, dachte sich das Rehlein.
Nach Weihnachten ging das Rehlein zum Arzt, der sie in die Uniklinik überwies und dort wurde Darmkrebs festgestellt. Der Morbus Crohn kann Krebs auslösen.
Das Rehlein flog wieder nach Schottland, war über Wochen bei der Tochter. Wie sie das jobmäßig managte, weiß ich nicht. Denn die Tochter war nicht flugfähig wegen eines Blutgerinsels im Gehirn.
Erst Ende März kamen Mutter und Tochter nach Hause, aber der Krebs bei jungen Menschen lässt sich meist nicht aufhalten.
Ende September starb die Tochter. Das Rehlein hatte den Mann verloren (um den es nicht so schade war, aber dennoch war es eine Klatsche) und noch viel schlimmer die Tochter.
Der Vater war beim Trauergottesdienst nicht zu sehen ....
Der komplette Bruch mit dem Mann, die Scheidung baldmöglichst durchgezogen, das Haus verkauft. Sie hatte wahnsinnig viel zu ertragen in dieser Zeit und ich weiß nicht wie sie das bewältigt hat.
Wenige Jahre später lernte sie einen Mann kennen, der in meiner Straße wohnt. Er hatte vor Jahren seine Frau durch Krebs verloren. Im Yogakurs lernten sie sich kennen und am Dienstag waren sie schon 3 Jahre verheiratet.
Ich freue mich immer über die beiden, sie passen so gut zusammen und machen einen glücklichen und harmonischen Eindruck.
Es ist merkwürdig, was sich in Familien wiederholt. Erst verliert das Rehlein die Schwester und Jahre später die Tochter. Seltsame Parallelität, so als ob es ein Programm wäre.
Die Tochter liegt in einem Friedwald, denn das Rehlein mag keine Friedhöfe und keine schwarze Kleidung. Ein Kindheitstrauma hinterlässt seine Spuren.